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Psychiatrie und Strafjustiz

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Magazin zur Erfahrungsseelenk<strong>und</strong>e. 193 Das Magazin bot breiten Raum zur Veröffentlichung <strong>und</strong> Diskussion<br />

von (Selbst-)Beobachtungen abweichenden Verhaltens, in denen der Verlust der Selbstbestimmungsfähig-<br />

keit <strong>und</strong> die «Tyrannei unwillkürlicher Vorstellungen <strong>und</strong> Vorsätze» beliebte Topoi darstellten. Solche<br />

Fallschilderungen erlaubten den BildungsbürgerInnen latente Ängste um die Gefährdung des körperlich-<br />

seelischen Gleichgewichts <strong>und</strong> der freien «Willenskraft» zu artikulieren. Denn das Bewusstsein, dass die<br />

freie Selbstbestimmung dauernder Gefahren ausgesetzt war, änderte nichts daran, dass der Besitz der Wil-<br />

lensfreiheit als Voraussetzung für eine erfolgreiche Lebensgestaltung angesehen wurde. So teilte der zeit-<br />

weilige Mitherausgeber des Magazins, der Philosoph Salomon Maimon (1753–1800), die auch in den zeitgenössischen<br />

Strafgesetzbüchern kodifizierte Auffassung, wonach die Willensfreiheit eine notwendige<br />

Voraussetzung der «Seelenges<strong>und</strong>heit» sei: «Seelenges<strong>und</strong>heit ist nehmlich derjenige Seelenzustand, worin<br />

die Würkungen des freien Willens ungehindert ausgeübt werden können; so wie Seelenkrankheit in dem<br />

entgegengesetzten Zustande besteht.» 194<br />

Was Zusammenhänge zwischen Verbrechen <strong>und</strong> psychischen Ausnahmezustände anbelangte, schloss vor<br />

allem die um 1800 im deutschen Sprachraum entstehende «Criminalpsychologie» an den Willensdiskurs<br />

der Erfahrungsseelenk<strong>und</strong>e an. 195 Wie die Diskursteilnehmer des Magazins sammelten auch Juristen, Pä-<br />

dagogen <strong>und</strong> Philosophen wie Johann Gottlieb Schaumann (1768–1821) Berichte über Kriminalfälle, bei<br />

denen die strafrechtliche Verantwortlichkeit der TäterInnen Anlass zu Zweifeln gab. Nach der Absicht<br />

ihrer Begründer diente die «Criminalpsychologie» als Klammer für die Beschäftigung verschiedener Fach-<br />

richtungen mit den subjektiven Aspekten der Kriminalität. Dementsprechend fliessend waren die dis-<br />

ziplinären Übergänge zwischen Rechtswissenschaft, Gerichtsmedizin <strong>und</strong> Psychologie. Ziel der «Crimi-<br />

nalpsychologie» war nach Schaumann die «richtige Erklärung derjenigen Handlungen, welche wir Verbre-<br />

chen nennen». 196 Ganz in der Tradition der aufklärerischen Forderung nach Menschenkenntnis standen<br />

die individuelle Psyche <strong>und</strong> die Motive der DelinquentInnen im Zentrum solcher Erklärungsversuche.<br />

Indem die «Criminalpsychologie» das kriminelle Handeln des Individuums zum Erkenntnisgegenstand<br />

erhob, beschäftigte sie sich ebenfalls mit psychischen Ausnahmezuständen, die eine freie Willensbetäti-<br />

gung <strong>und</strong> damit die strafrechtliche Verantwortlichkeit ausschlossen. Psychologen <strong>und</strong> Ärzte wie Hoffbau-<br />

er oder Friedreich, die sich mit der Beurteilung zweifelhafter Geisteszustände vor Gericht beschäftigten,<br />

waren denn auch viel beachtete Teilnehmer am kriminalpsychologischen Diskurs. Gegenüber den in der<br />

ersten Hälfte des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts dominanten straftheoretischen Positionen von Feuerbach <strong>und</strong> Kant<br />

entwickelten die Kriminalpsychologen zunehmend ein kritisches Potenzial. Das Betonen der individuellen<br />

Ursachen des Verbrechens liess in ihren Augen den Besserungszweck der Strafe in den Vordergr<strong>und</strong> tre-<br />

ten: «Strafen heisst Menschen bessern, nicht Menschen töten». 197 Wo das tatfixierte Strafrecht aus Grün-<br />

den der formalen Gleichbehandlung eine gleichmässige Aburteilung aller StraftäterInnen vorsah, forderten<br />

die Kriminalpsychologen eine individualisierte Ausgestaltung der Strafe mit dem klaren Zweck der Rein-<br />

tegration der Rechtsbrecher in die Gesellschaft. Die Besserungsstrafe, wie sie den Kriminalpsychologen<br />

vorschwebte, sollte primär auf die Willensbildung einwirken <strong>und</strong> die «gestörten Harmonie der Seelenkräf-<br />

te» des Verbrechers wiederherstellen. 198<br />

Das justizkritische Potenzial dieser Willenssemantik kam ebenfalls bei der literarischen Bearbeitung des<br />

Kriminalfalls Woyzeck durch Georg Büchner (1813–1837) zum Ausdruck. Johann Christian Woyzeck war<br />

193 Vgl. Kaufmann, 1995, 42-49; Dörner, 1995, 208-212.<br />

194 Salomon Maimon, «Über den Plan des Magazins zur Erfahrungsseelenk<strong>und</strong>e», zitiert: Kaufmann, 1995, 109.<br />

195 Vgl. zum Folgenden: Greve, 2000; Engelhardt, 1983, 264.<br />

196 J. C. G. Schaumann, Ideen zu einer Kriminalpsychologie, 1792, 91, zitiert: Greve, 2000, 75.<br />

197 K. v. Eckartshausen, Die Nothwendigkeit physiologischer Kenntnisse bey Bertheilung der Verbrechen, 1791, 31, zitiert: Greve, 2000, 84.<br />

198 Greve, 2000, 84f.; Nutz, 2001, 69-98.<br />

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