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Psychiatrie und Strafjustiz

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Die Ursachen der Störung spielen dabei keine Rolle. Alle feinen, nur dem Fachmann mit besonderer Beo-<br />

bachtungs- <strong>und</strong> Untersuchungstechnik erkennbaren Züge von Uneinfühlbarkeit fallen nicht unter den<br />

Rechtsbegriff der Geisteskrankheit [...].» 1576 Was dies konkret hiess, verdeutlichte Binder bezeichnender-<br />

weise am Beispiel der «Psychopathie». Laien wie Psychiater würden «Psychopathen» in der Regel als «ab-<br />

norm», das heisst für nicht geisteskrank befinden <strong>und</strong> deshalb meist auf verminderte Zurechnungsfähig-<br />

keit, respektive auf «Geistesschwäche» im Sinne des Zivilgesetzbuches erkennen. Obwohl eine Geistes-<br />

krankheit im medizinischen Sinn nicht zu diagnostizieren sei, sei es aber in einzelnen Fällen starker cha-<br />

rakterlichen Störungen durchaus angemessen, auch «Psychopathen» für gänzlich unzurechnungsfähig zu<br />

beurteilen. 1577<br />

Binders Arrangement zwischen medizinisch-psychiatrischen <strong>und</strong> juristisch-alltäglichen Krankheitsbegrif-<br />

fen hatte im Wesentlichen zwei Stossrichtungen. Es betonte die Autonomie des medizinischen Krank-<br />

heitsbegriffes gegenüber den Anforderungen der Gerichtspraxis. Klinisch-psychiatrische <strong>und</strong> forensisch-<br />

psychiatrische Begrifflichkeiten wurden dadurch vergleichsweise klar getrennt. Gleichzeitig hielt Binder<br />

unmissverständlich fest, dass sich psychiatrische Beurteilungen der Schuldfähigkeit letztlich an einem an<br />

den Bedürfnissen psychiatrischer Laien orientierten Krankheitsbegriff auszurichten hätten. Nur dadurch<br />

liesse sich garantieren, dass die Sachverständigen nicht um den «praktischen Erfolg» ihrer Gutachten ge-<br />

bracht würden. Binder war also bereit, die wissenschaftliche Autonomie der <strong>Psychiatrie</strong> im Bereich der<br />

Forensik (nicht jedoch der Klinik) einer reibungslosen <strong>und</strong> zweckmässigen Kooperation zwischen Justiz<br />

<strong>und</strong> <strong>Psychiatrie</strong> unterzuordnen. In kriminalpolitischer Hinsicht besass diese Argumentation insofern einen<br />

wesentlichen Vorteil, als sie erlaubte, Befürchtungen vor einer laxen Exkulpationspraxis aufgr<strong>und</strong> eines<br />

weiten psychiatrischen Krankheitsbegriffs bereits im Keim zu ersticken. Wie andere Schweizer Psychiater,<br />

die sich für eine tendenzielle Demedikalisierung des Massnahmenrechts aussprachen, sah Binder zu Be-<br />

ginn der 1950er Jahren in einer (zu) grosszügigen Exkulpationspraxis eine Gefahr, welche nicht nur die<br />

Funktionsfähigkeit des neuen Strafrechts, sondern auch die Autorität <strong>und</strong> Handlungsfähigkeit der psychi-<br />

atrischen Disziplin in Mitleid zu ziehen drohte.<br />

Fazit: Spezialisierung zwischen Wissenschaft, Begutachtungspraxis <strong>und</strong> Kriminalpolitik<br />

Anhand der Publikationen Benno Dukors, Jakob Wyrschs <strong>und</strong> Hans Binders zeigt sich, dass sich nach der<br />

Einführung des neuen Strafgesetzbuchs in der Schweiz vereinzelte Spezialisierungstendenzen im Bereich<br />

der forensischen <strong>Psychiatrie</strong> ausmachen lassen. Diese wurden von einzelnen Exponenten der Disziplin in<br />

Eigeninitiative vorangetrieben <strong>und</strong> blieben institutionell in den Betrieb der regulären Anstalts- <strong>und</strong> Uni-<br />

versitätspsychiatrie integriert. Zu nachhaltigen Forschungsanstrengungen im Bereich der Kriminalpsychi-<br />

atrie oder der Kriminologie, wie dies Dukor 1944 postuliert hatte, kam es dagegen in der unmittelbaren<br />

Nachkriegszeit nicht. Bezeichnend für die hier analysierten Spezialisierungstendenzen war dagegen eine<br />

enge – wenngleich unterschiedlich ausgeprägte – Verbindung zwischen Begutachtungspraxis <strong>und</strong> Krimi-<br />

nalpolitik. Beharrte Dukor auf einer strikten Trennung von Begutachtungspraxis, Forschung <strong>und</strong> Krimi-<br />

nalpolitik, so sahen Wyrsch <strong>und</strong> Binder in der gezielten Wahrnehmung von Vermittlungsaufgaben <strong>und</strong> in<br />

einer vertieften Gr<strong>und</strong>lagenreflexion wirksame Möglichkeiten, um kriminalpolitisch «unzweckmässige<br />

Konsequenzen» (Hans Binder) in der Justizpraxis zu verhindern. Ganz im Zeichen des wiederholt festge-<br />

stellten Trends zu einer Akzentuierung des Schuldprinzips in den 1940er <strong>und</strong> 1950er Jahren plädierte<br />

namentlich Binder für eine striktere Exkulpationspraxis <strong>und</strong> passte dabei seine Systematisierungsversuche<br />

den vermeintlichen Anforderungen der forensisch-psychiatrischen Praxis an. Was Dukor hingegen vor-<br />

1576 Binder, 1952, 71f.<br />

1577 Binder, 1952, 109-113.<br />

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