13.09.2013 Aufrufe

Psychiatrie und Strafjustiz

Psychiatrie und Strafjustiz

Psychiatrie und Strafjustiz

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Erfolgreiche ePaper selbst erstellen

Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.

Schwierigkeiten, die sich aus der seit den 1890er Jahren expandierenden Begutachtungs- <strong>und</strong> Verwah-<br />

rungspraxis ergaben, verblasste nach dem Ersten Weltkrieg der kriminalpolitische Optimismus eines Fo-<br />

rels oder des jungen Bleulers weitgehend. An dessen Stelle traten Versuche der Psychiater, mit der wach-<br />

senden institutionellen Herausforderung durch weiterhin zunehmende Gutachtenaufträge <strong>und</strong> Siche-<br />

rungsmassnahmen fertig zu werden. Konsequenz dieser Ernüchterung war eine teilweise Abkehr der Dis-<br />

ziplin von den kriminalpolitischen Leitbildern des späten 19. Jahrh<strong>und</strong>erts. Strafrechtliche Repression <strong>und</strong><br />

medizinische Behandlungs- <strong>und</strong> Versorgungskonzepte wurden nun weniger als gegensätzliche, denn als<br />

flexibel kombinierbare Kriminalitätsbewältigungsstrategien verstanden. Für die <strong>Psychiatrie</strong> bedeutete diese<br />

Abkehr von der Medikalisierungseuphorie in institutioneller Hinsicht zweifellos eine beträchtliche Entlastung,<br />

wovon im Gegenzug viel versprechender erscheinende Tätigkeitsbereiche wie die neuen somati-<br />

schen Therapien profitieren konnten. Für die betroffenen DelinquentInnen konnten solche Demedikali-<br />

sierungstendenzen indes gravierende Auswirkungen haben. So nahm zwar die Zahl der begutachteten<br />

StraftäterInnen, die das Stigma einer psychiatrischen Diagnose wie «Psychopathie» erhielten, nach wie vor<br />

zu, gleichzeitig überliess die <strong>Psychiatrie</strong> die Behandlung, Verwahrung <strong>und</strong> Versorgung dieser Delinquen-<br />

tInnengruppe aber nur zu gern dem regulären Strafvollzug. Die Folge dieser ambivalenten Haltung war<br />

die Entstehung einer Gruppe «unverbesserlicher Gewohnheitsverbrechern», die in der Begutachtungspra-<br />

xis zwar das Etikett «psychopathisch» erhielten, für deren Behandlung <strong>und</strong> Versorgung sich die <strong>Psychiatrie</strong><br />

dagegen für nichtzuständig erklärte. Die in der Zwischenkriegszeit zum Durchbruch gelangenden Deme-<br />

dikalisierungstendenzen sollten nach der Einführung des schweizerischen Strafgesetzbuchs eine neue<br />

Tragweite erhalten. Rückblickend können sie als eine Erprobung jener Argumentations- <strong>und</strong> Handlungs-<br />

mustern betrachtet werden, welche die Position der psychiatrischen scientific community gegenüber den Voll-<br />

zugsproblemen des neuen Einheitsstrafrechts massgeblich prägen sollten.<br />

330

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!