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Psychiatrie und Strafjustiz

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angehalten werden. 1929 fasste Simon sein Programm im Buch Aktivere Krankenbehandlung in der Irrenanstalt<br />

zusammen. 1285 Die «aktive Therapie» stiess bei Schweizer Psychiatern auf lebhaftes Interesse. Müller bei-<br />

spielsweise präsentierte die neuen Errungenschaften enthusiastisch vor dem Berner Hilfsverein für Geistes-<br />

kranke: «Unruhige Abteilungen in unserem Sinne gibt es in der nach der neuen Methode organisierten<br />

Anstalt nicht mehr. Dauerisolierungen <strong>und</strong> Dauerbäder sind abgeschafft, Kranke, die monate- <strong>und</strong> jahre-<br />

lang stumpf in ihren Betten lagen, findet man nicht mehr. Und vor allem: überall herrscht eine Ruhe <strong>und</strong><br />

Ordnung, wie bei uns auf den besten Abteilungen.» Renitente Kranke seien ausserdem so selten, «dass sie<br />

im allgemeinen Eindruck völlig untergehen». 1286 Im Herbst 1929 besuchte eine Studienkommission, wel-<br />

cher der Berner Ges<strong>und</strong>heitsdirektor <strong>und</strong> Ärzte aller drei kantonalen Anstalten angehörten, verschiedene<br />

Anstalten in Holland <strong>und</strong> Deutschland. Mehrere Berner Psychiater machten sich zudem in deutschen<br />

Anstalten mit der neuen Anstaltstechnologie vertraut. Im Anschluss an die Studienreise stellte Müller in<br />

Münsingen erste Versuche mit der «aktive Therapie» an. Die PatientInnen wurden systematisch beschäf-<br />

tigt, Unterhaltungsmöglichkeiten geschaffen <strong>und</strong> die Räumlichkeiten ansprechender hergerichtet. 1287 Vom<br />

Erfolg seiner Versuche überzeugt, vertrat Müller den Standpunkt, wonach die Irrenanstalten mehr <strong>und</strong><br />

mehr zur «Durchgangsstation zur Behandlung akuter Fälle <strong>und</strong> zur Wiedererziehung <strong>und</strong> Aufweckung<br />

vollständig versunkener <strong>und</strong> stumpfer Kranker» werden sollten. 1288<br />

Die Erfolge der somatischen Behandlungsmethoden <strong>und</strong> der «aktiven Therapie» veränderten den Alltag in<br />

den psychiatrischen Anstalten nachhaltig. Erstmals wurde ein therapeutischer Raum geschaffen, der den<br />

Kriterien der modernen Medizin entsprach. Dieser Prozess verlief aber nicht ohne Widersprüche. Vor<br />

allem im Fall der deutschen <strong>Psychiatrie</strong> ist darauf hingewiesen worden, dass die integrative Wirkung der<br />

«aktiven Therapie» bei jenen Fällen, die sich trotz allem einer Therapie nicht zugänglich zeigten, neue<br />

Grenzziehungen zur Folge hatte, wurde doch dadurch die Kluft zwischen «Heilbaren» <strong>und</strong> «Unheilbaren»<br />

verstärkt. 1289 Ebenfalls ist auf die normalisierende Wirkung von Simons Vorschlägen hingewiesen worden,<br />

die das Anstaltsleben strikte nach dem Massstab des «normalen» Lebens ausrichten wollten. 1290 Für die<br />

Schweizer <strong>Psychiatrie</strong> hat Hans Jakob Ritter jüngst darauf hingewiesen, wie eng eine heute als repressiv<br />

bewertete Sterilisationspraxis mit dem therapeutischen Dispositiv der somatischen Behandlungsmethoden<br />

verknüpft sein konnte. 1291 Unter dem Eindruck der neuen therapeutischen Verfahren veränderte sich<br />

demzufolge das Verhältnis der Psychiater zu den für die psychiatrische Praxis zentralen Denk- <strong>und</strong> Wahr-<br />

nehmungskategorien wie «Heilbarkeit» <strong>und</strong> «Unheilbarkeit». Diese Veränderung betraf insbesondere die<br />

Gruppe der geistesgestörten StraftäterInnen. Das Schaffen eines therapeutischen Raumes in den psychiat-<br />

rischen Anstalten der Zwischenkriegszeit hatte zur Folge, dass sich die <strong>Psychiatrie</strong> immer weniger als blos-<br />

se Verwahrungsinstitution verstand. «Abnorme» StraftäterInnen, die sich den neuen Behandlungsmetho-<br />

den nicht zugänglich zeigten, gerieten dadurch noch stärker als bisher zu «Fremdkörpern» im Anstaltsle-<br />

ben. Zwangsläufig verstärkte sich dadurch die Tendenz, solche AnstaltsinsassInnen an den Strafvollzug<br />

abzuschieben.<br />

1285 Siemen, 1987, 63-69.<br />

1286 Müller, 1929/30, 10 f.<br />

1287 Müller, 1982, 87-101; Wyrsch, 1950, 82f.<br />

1288 Müller, 1929/30, 18. Siehe auch die Abbildungen in Knoll, 1932, die die Veränderung des Patientenalltags in der Irrenanstalt<br />

Bellelay dokumentieren sollten.<br />

1289 Schmuhl, 1990, 421.<br />

1290 Siemen, 1987, 67.<br />

1291 Ritter, 1999, 39.<br />

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