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Psychiatrie und Strafjustiz

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Fälle, welche als Beweise moralischen Irreseins aufgeführt werden, beziehen sich weitaus in der Mehrzahl<br />

der Fälle auf schlecht erzogenen <strong>und</strong> verwahrloste Individuen <strong>und</strong> nicht auf Geisteskranke.» 693<br />

An der Stelle, wo Emmert zögerte, von Übergangszuständen zwischen Krankheit <strong>und</strong> Ges<strong>und</strong>heit <strong>und</strong><br />

Störungen des Willens <strong>und</strong> der Affekte zu sprechen, hatte in den 1880er Jahren auch im Kanton Bern der<br />

psychiatrische Diskurs eingesetzt. Zwischen 1885 <strong>und</strong> 1920 unternahmen die Berner Psychiater wie ihre<br />

in- <strong>und</strong> ausländischen Kollegen wiederholt Vorstösse, um die neuen psychiatrischen Deutungsmuster im<br />

psychiatrisch-juristischen Interdiskurs zu etablieren, die kriminelles Verhalten primär als eine Folge «min-<br />

derwertiger Anlagen» ansahen, die sich in einer mangelnden «Widerstandskraft» gegenüber Triebregungen<br />

<strong>und</strong> Affekten äusserten. Indem sie die strafrechtliche Relevanz solcher «Grenzzustände» betonten, setzten<br />

sie sich zugleich kritisch mit der Willenssemantik des bürgerlichen Strafdiskurses auseinander, dem auch<br />

die Berner Strafgesetzgebung folgte. Wie bereits erwähnt, veröffentlichten von Speyr <strong>und</strong> Brauchli Mitte<br />

der 1890er Jahre in der Schweizerischen Zeitschrift für Strafrecht mehrere strafrechtliche Gutachten, die ausge-<br />

sprochene «Grenzfälle», vor allem «psychopathische» <strong>und</strong> «erblich belastete» DelinquentInnen, betrafen.<br />

1901 folgte ihnen Glaser mit einem ausführlichen Gutachten über einen «Psychopathen». 694 1908 <strong>und</strong><br />

1909 las Walker an der Universität vor Studierenden aller Fakultäten über die «Grenzgebiete des Irre-<br />

seins». 695 Im folgenden Jahr referierte Hiss vor dem Berner Hilfsverein für Geisteskranke ausführlich über<br />

«Grenzgebiete zwischen geistiger Ges<strong>und</strong>heit <strong>und</strong> Geisteskrankheit». Sein Referat handelte in erster Linie<br />

von jenen Personen, «von denen man nicht weiss, sind sie geisteskrank, geistesschwach, geistig abnorm<br />

oder boshaft, einfältig oder gar Verbrecher [sind], jene Menschen, die man je nach der Sachlage <strong>und</strong> Auf-<br />

fassung als Degenerierte, Entartete, Desequilibrierte, Psychopathen, verschrobene Charaktere, moralisch<br />

Defekte u.s.w. bezeichnet [...].» 696 Vor dem gleichen Publikum sprach Glaser 1911 über die «Verschieden-<br />

artige Beurteilung zweifelhafter Geisteszustände». 697 Diese Interventionen der führenden Berner Psychia-<br />

ter verfolgten das Ziel, das vergleichsweise neue psychiatrische Wissen über Zustandsbilder aus dem<br />

Übergangsbereich zwischen Ges<strong>und</strong>heit <strong>und</strong> Krankheit zu popularisieren <strong>und</strong> diskursiv zu verankern. 698<br />

Im Vergleich zur traditionellen Lehrmeinung, wie sie Emmert verkörpert hatte, implizierte dies eine deut-<br />

liche Ausweitung des psychiatrischen Deutungsanspruchs.<br />

Besonders intensiv beschäftigte sich Georg Glaser mit den neuen Deutungsmustern <strong>und</strong> ihren Auswir-<br />

kungen auf die forensisch-psychiatrische Praxis. Bereits 1887 forderte er in einer Schrift Zurechnungsfähig-<br />

keit, Willensfreiheit, Gewissen <strong>und</strong> Strafe eine stärkere Berücksichtigung der «Willenskraft» <strong>und</strong> der Affekte bei<br />

der Beurteilung der Zurechnungsfähigkeit: «Es ist also nicht die Erkenntnis von Recht <strong>und</strong> Unrecht allein,<br />

welche den Menschen befähigt, Recht zu tun <strong>und</strong> Unrecht zu meiden; es sind vielmehr wesentliche die<br />

Gefühle, welche den Ausschlag für die Handlungsweise geben.» 699 Glaser modellierte das menschliche<br />

Verhalten als steten Kampf zwischen «primären» <strong>und</strong> «sek<strong>und</strong>ären» Trieben, zwischen körperlichen Re-<br />

gungen <strong>und</strong> der kulturell vermittelten «Gewissenskraft». Insofern sah er nur einen graduellen Unterschied<br />

zwischen ges<strong>und</strong>en <strong>und</strong> kranken DelinquentInnen. In beiden Fällen würden die egoistischen Antriebe die<br />

Widerstandskraft des «Gewissen» überwiegen. Als «krank» bezeichnete er hingegen nur dann einen Ver-<br />

brecher, «wenn ihm bei gegebenen äusseren die inneren, in der Hirnbeschaffenheit gelegenen Bedingun-<br />

693 Emmert, 1900, 508.<br />

694 Speyr/Brauchli, 1894; Speyr/Brauchli, 1894a; Speyr/Brauchli, 1895; Glaser, 1901.<br />

695 Universität Bern. Vorlesungsverzeichnisse, 1908, 1909.<br />

696 Hiss, 1910, 5.<br />

697 Glaser, 1910.<br />

698 Zum Popularisierungskonzept: Daum, 1998; Cooter/Pumfrey, 1994; Shinn/Whitley, 1985.<br />

699 Glaser, 1888, 68f.<br />

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