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Psychiatrie und Strafjustiz

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der Rechtseinheit verwirklichen liessen. Das Lancieren der Strafrechtsreform hing demnach zu einem<br />

guten Teil davon ab, ob es den daran interessierten Akteuren gelang, die Strafrechtseinheit auf die politi-<br />

sche Agenda zu setzen. Die Reformer waren sich bewusst, dass zur Realisierung der Rechtseinheit das<br />

Eingehen kriminalpolitischer Kompromisse mit den Anhängern des traditionellen Schuldstrafrechts unab-<br />

dingbar sein würde. Konsensfähig konnte sich unter diesen Umständen nur eine Strafrechtsreform erwei-<br />

sen, deren Leitlinien sowohl den Ergebnisse kriminalpolitischer Lernprozesse, als auch den politischen<br />

Mehrheitsverhältnissen Rechnung trugen. Dieser kriminalpolitische Pragmatismus legte gleichzeitig den<br />

Rahmen fest, innerhalb dessen die Schweizer Strafrechtsreformer bereit waren, den Bestrebungen zu einer<br />

Medikalisierung kriminellen Verhaltens <strong>und</strong> den damit verb<strong>und</strong>enen Kompetenzansprüchen der Psychiat-<br />

rie entgegenzukommen.<br />

Die Strafrechtsvereinheitlichung: Lernprozesse, Akteure <strong>und</strong> agenda setting<br />

Entscheidend vorangetrieben wurde die Strafrechtseinheit von einer Gruppe jüngerer <strong>und</strong> in politischer<br />

Hinsicht tendenziell dem radikal-demokratischen Flügel des Freisinns nahe stehenden Strafrechtsspezialis-<br />

ten. Diese Juristen erhofften sich von der Vereinheitlichung des Strafrechts nicht nur eine zweckmässigere<br />

Verbrechensbekämpfung <strong>und</strong> Impulse für die nationale Integration, sondern auch eine Verfachlichung der<br />

Strafrechtswissenschaft, die im Vergleich zur Zivilistik in der Schweiz bis dahin ein Randdasein geführt<br />

hatte. 352 Die Strafrechtsvereinheitlichung kann somit als typisches Beispiel für einen Lern- <strong>und</strong> Reform-<br />

prozess bezeichnet werden, der von einem Amalgam aus politischen <strong>und</strong> professionellen Interessen getra-<br />

gen wurde. 353 Im Hinblick auf das politische agenda setting der Strafrechtsvereinheitlichung war es zunächst<br />

entscheidend, dass es den Schweizer Strafrechtlern gelang, sich zu vernetzen <strong>und</strong> sich zu einer politisch<br />

relevanten Akteursgruppe zu formieren.<br />

Beim Bestreben, kriminalpolitischen Reformanliegen politische Resonanz zu verschaffen, spielten Stan-<br />

des- <strong>und</strong> Interessenverbände wie der Schweizerische Juristenverein oder der Schweizerische Verein für Straf- <strong>und</strong><br />

Gefängniswesen sowie die 1888 gegründete Schweizerische Zeitschrift für Strafrecht eine zentrale Rolle. 1881 nutz-<br />

te etwa der Zürcher Oberrichter <strong>und</strong> spätere demokratische Nationalrat Emil Zürcher das Forum des<br />

Gefängnisvereins, um für die Strafrechtseinheit als Gebot der «staatsrechtlichen Prinzipien», der «Gerech-<br />

tigkeit» <strong>und</strong> der «nationalen Politik» zu werben <strong>und</strong> die Wünschbarkeit der Rechtseinheit «vom Stand-<br />

punkte einer wissenschaftlichen Bearbeitung des schweizerischen Strafrechts» hervorzuheben. Indem sich<br />

Zürcher überzeugt gab, dass die Strafrechtseinheit die Voraussetzung für die vom Gefängnisverein seit<br />

längerem geforderte Zentralisierung des Strafvollzugs sei, postulierte er eine Interessenkoalition zwischen<br />

Juristen <strong>und</strong> den Vertretern des Strafvollzugs. Er war sich allerdings bewusst, dass nach dem Scheitern des<br />

Verfassungsentwurfs von 1872 die Chancen für eine baldige Realisierung der Strafrechtseinheit schlecht<br />

standen; dennoch sei es von grossem Nutzen, wenn die Frage «gehörig im Fluss» gehalten werde. 354<br />

Erneut thematisiert wurde die Strafrechtseinheit auf der Versammlung des Juristenvereins von 1887. An-<br />

lässlich der Diskussion über die Revision des Auslieferungsgesetzes von 1852, das die gegenseitige Auslie-<br />

ferung von verdächtigen Personen zwischen den Kantonen regelte, brachte eine vom Berner Oberrichter<br />

Carl Stooss repräsentierte Juristengruppe eine Resolution ein, die den B<strong>und</strong>esrat aufforderte, die Vorarbei-<br />

ten für eine Vereinheitlichung des Strafrechts an die Hand zu nehmen. Die versammelten Juristen waren<br />

sich zwar einig, dass das Gesetz von 1852 die Auswirkungen des strafrechtlichen Partikularismus in der<br />

Schweiz nur unzureichend kompensierte. So weigerten sich einzelne Kantone, Kantonsbürger auszulie-<br />

352 Zum Stand der Strafrechtswissenschaft in der Schweiz um 1870: Pfenninger, 1936, 164.<br />

353 Vgl. Luminati, 1999. Allgemein: Siegenthaler, 1997, 9f.<br />

354 Zürcher, 1882, 118-122; Verhandlungen des Schweizerischen Vereins für Straf- <strong>und</strong> Gefängnisverein, 12, 1882, 21f.<br />

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