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Psychiatrie und Strafjustiz

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Umgestaltung des geltenden Schuldstrafrechts ausgesprochen hätte. Selbst radikale Strafrechtsreformer<br />

wie Zürcher räumten ein, dass aus politischen Gründen ein reines Massnahmenrecht, wie es die Kriminal-<br />

anthropologen propagiert hatten, in der Schweiz kaum Chancen auf eine Verwirklichung haben würde.<br />

Eine Konsequenz aus dieser Konstellation war, dass eine strukturelle Koppelung zwischen <strong>Strafjustiz</strong> <strong>und</strong><br />

<strong>Psychiatrie</strong> auch künftig primär über den Rechtsbegriff der Zurechnungsfähigkeit zu erfolgen hatte. Dem-<br />

entsprechend geringe Chancen auf eine Verwirklichung hatte eine Infragestellung der Aufgabenteilung<br />

zwischen den beiden Disziplinen, wie sie sich in der ersten Jahrh<strong>und</strong>erthälfte herausgebildet hatte. Zweitens<br />

beschränkte die von Stooss konzipierte <strong>und</strong> in den verschiedenen Vorentwürfen weitgehend verwirklichte<br />

Zweispurigkeit von Strafen <strong>und</strong> Massnahmen Ansätze zu einer Medikalisierung kriminellen Verhaltens auf<br />

einzelne sichernde Massnahmen, namentlich auf solche gegen geistesgestörte oder trunksüchtige Straftäte-<br />

rInnen. Die Schweizer Strafrechtsreform ging somit lediglich im Bereich des neuen Massnahmenrechts,<br />

<strong>und</strong> auch hier nur punktuell, von einem Primat medizinischer Behandlungs- <strong>und</strong> Versorgungskonzepte<br />

über den Strafcharakter der Sanktionen aus. In diesem beschränkten Rahmen bot das neue Massnahmen-<br />

recht jedoch Raum für eine Erweiterung des medizinisch-psychiatrischen Tätigkeitsbereichs. Die Zweispu-<br />

rigkeit von Strafen <strong>und</strong> Massnahmen hatte dadurch zugleich eine Zweiteilung des strafrechtlichen Sankti-<br />

onssystems zur Folge, die wesentlich zur gesellschaftlichen Konstruktion von «Normalität» <strong>und</strong> «Abnor-<br />

mität» beitrug: «Strafe für die geistig <strong>und</strong> körperlich reifen <strong>und</strong> normalen Verbrecher, dagegen nicht Strafe,<br />

sondern eventuell sichernde Massnahme für alle übrigen Gesetzesübertreter: die Unzurechnungsfähigen,<br />

Jugendlichen, die für die Strafwirkung abgestumpften, immer wieder Rückfälligen, endlich die geistig<br />

Anormalen, Trunksüchtigen, Liederlichen». 417 Wie der Jurist Ernst Hafter 1904 zu Recht feststellte, schuf<br />

Stooss’ Strafrechtsreform ein beschränktes Territorium, auf dem sich Bestrebungen zu einer Medikalisie-<br />

rung «abnormen» kriminellen Verhaltens entfalten konnten. Drittens blieb die Schweizer Strafrechtseinheit<br />

nicht zuletzt aus Gründen der politischen Rücksichtnahme auf die Gegner der Rechtseinheit auf den Be-<br />

reich des materiellen Strafrechts beschränkt. Es ist darauf hingewiesen worden, dass diese Beschränkung<br />

vor allem im Bereich des Straf- <strong>und</strong> Massnahmenvollzugs ein Feld für potenzielle Konflikte schuf. Im<br />

übrigen bedeutete die Konzentration auf das materielle Strafrecht, dass kriminalpolitischen Bestrebungen,<br />

die primär das Gebiet des Strafprozessrechts betrafen wie etwa die Stellung medizinischer Sachverständi-<br />

ger vor Gericht auf B<strong>und</strong>esebene kaum Resonanz beschieden sein konnte. Wie in Kapitel 4.3 gezeigt wird,<br />

gehörten sowohl das Festhalten am Schuldstrafrecht, die Beschränkung der Medikalisierungspostulate auf<br />

das Massnahmenrecht, als auch die Beschränkung der Rechtseinheit auf das materielle Strafrecht zu jenen<br />

Rahmenbedingungen, welche die Handlungsspielräume einer psychiatrischen Kriminalpolitik entscheidend<br />

prägen sollten.<br />

4.2 Die «Entdeckung » der Kriminalpolitik durch die Schweizer <strong>Psychiatrie</strong><br />

Ausserhalb der Juristenschaft stiess die Strafrechtsreform namentlich bei den Schweizer Psychiatern auf<br />

lebhaftes Interesse. Diese unterstützten von Beginn an die Bestrebungen der Strafrechtsreformer, die kan-<br />

tonalen Strafrechte zu vereinheitlichen <strong>und</strong> das bestehende Schuldstrafrecht teilweise umzugestalten. Ein-<br />

zelne Bestandteile der Strafrechtsreform gingen sogar direkt auf die Einflussnahme der Schweizer Psychia-<br />

ter zurück. Diese Interventionen <strong>und</strong> die damit verb<strong>und</strong>enen rechtspolitischen Auseinandersetzungen<br />

werden in Kapitel 4.3 ausführlich analysiert. Zunächst gilt es aber die Frage zu diskutieren, unter welchen<br />

Voraussetzungen <strong>und</strong> Umständen die Schweizer Psychiater die Strafrechtsreform in den späten 1880er<br />

Jahren als disziplinäres Projekt «entdeckten» <strong>und</strong> die Forderung nach einer teilweisen Medikalisierung des<br />

Strafrechts zu ihrem standespolitischen Anliegen erhoben. In diesem Zusammenhang werden im Folgen-<br />

417 Hafter, 1904, 217.<br />

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