13.09.2013 Aufrufe

Psychiatrie und Strafjustiz

Psychiatrie und Strafjustiz

Psychiatrie und Strafjustiz

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Erfolgreiche ePaper selbst erstellen

Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.

sisch-psychiatrische Begutachtungspraxis allerdings noch nicht. Denn auch die psychiatrischen Sachver-<br />

ständigen bezogen einen grossen Teil der Informationen über die ExplorandInnen aus Zeugenaussagen<br />

oder direkten Erk<strong>und</strong>igungen. Beobachtungen medizinischer Laien <strong>und</strong> Alltagswissen über die betroffe-<br />

nen DelinquentInnen flossen zum Teil wortwörtlich in Anamnesen <strong>und</strong> Gutachten ein. Die Berner Psy-<br />

chiater griffen bei der Informationsbeschaffung regelmässig auf die Lebenswelt ihrer ExplorandInnen<br />

zurück. Dass die Verwertung von psychiatrischem Spezialwissen in Gerichtsgutachten sogar ausgespro-<br />

chen problematisch sein konnte, zeigte sich im Zusammenhang mit der Handhabung der neu entwickelten<br />

Intelligenztests oder bei der Einschätzung von «Degenerationszeichen». Die psychiatrischen Deutungsmuster<br />

kriminellen Verhaltens, die schliesslich Eingang in die Gerichtsgutachten fanden, unterschieden<br />

sich denn auch weniger durch ihre Wissensbasis, als durch ihre spezifische Verknüpfung von Wissensbe-<br />

ständen von alltäglichen Wahrnehmungen abweichenden Verhaltens.<br />

Psychiatrische Deutungsmuster: Funktionen, normative Bezüge <strong>und</strong> Besonderheiten<br />

Die Justizbehörden erwarteten von einer psychiatrischen Begutachtung in erster Linie eine Klärung der<br />

Rechtsfrage der Zurechnungsfähigkeit. Die Vorgabe von Fragestellungen an die Sachverständigen erlaubte<br />

ihnen, die psychiatrische Wissensproduktion im Hinblick auf ihre systemspezifischen Bedürfnisse zu kon-<br />

ditionieren. Indem die Psychiater die Zurechnungsfähigkeit ihrer Exploranden beurteilten, produzierten<br />

sie aber auch Deutungsangebote, die die eingeklagten Handlungen in spezifische Sinnzusammenhänge<br />

stellten. Beispielhaft verdeutlicht der Fall des vierfachen Mörders Christian Binggeli die Funktion psychiat-<br />

rischer Deutungsmuster im Hinblick auf eine kollektive Sinnstiftung. Indem sie Straftaten <strong>und</strong> Verstösse<br />

gegen die bürgerliche Werteordnung auf ein pathologisches Substrat zurückführten, kamen die Psychiater<br />

gesellschaftlichen Sinn- <strong>und</strong> Orientierungsbedürfnissen entgegen. Durch eine Pathologisierung erfuhr<br />

abweichendes Verhalten gleichzeitig eine stringente Ausdeutung. Wie im Fall von Hans Rudolf W. konnte<br />

die eingeklagte Tat dabei sogar gänzlich hinter der pathologischen Individualität des Täters verschwinden.<br />

Im Zentrum stand dann nur noch die Abweichung der TäterInnen von einer imaginären Normalität <strong>und</strong><br />

nicht mehr die begangene Straftat. Dieses Normalisierungswissen orientierte sich einerseits an den Fix-<br />

punkten des «bürgerlichen Wertehimmels», andererseits an spezifischen psychopathologischen Erklä-<br />

rungsmodellen. Bestandteile bürgerlicher Identität wie eine harmonische Entwicklung <strong>und</strong> Entfaltung der<br />

Persönlichkeit, Selbständigkeit <strong>und</strong> Bewährung im Erwerbsleben, die Einhaltung der Geschlechterrollen,<br />

Kontrolle der Affekte <strong>und</strong> Triebe sowie Heterosexualität stellten sowohl in der psychiatrischen Begutach-<br />

tungspraxis, als auch in den ihr vorgelagerten Definitionsprozessen massgebliche Kriterien für die Beurtei-<br />

lung devianten Verhaltens dar. Geradezu apodiktisch hiess es in diesem Zusammenhang 1901 in der Dis-<br />

sertation eines Berner Psychiaters: «Vom Ges<strong>und</strong>en soll <strong>und</strong> darf man verlangen, dass er sich auch im<br />

Affekt beherrschen kann, dass ein Wille <strong>und</strong> seine Vernunft stärker sind als die heftigsten Gemütsregun-<br />

gen.» 1103 Psychiatrische Deutungsmuster verdichteten Abweichungen von solchen Erwartungen in begrifflichen<br />

Komplexen wie der «Unfähigkeit zu einer sittlichen Selbstführung» oder der «Gemütsstumpfheit».<br />

Markiert wurde dabei die vermeintliche Unfähigkeit der betroffenen Delinquenten, sich an den emotiona-<br />

len Fixpunkten des «bürgerlichen Werthimmels» zu orientieren <strong>und</strong> ihr Leben im Einklang mit den sittli-<br />

chen Geboten <strong>und</strong> rechtlichen Normen der bürgerlichen Gesellschaft zu führen. Psychiatrische Deu-<br />

tungsmuster transportierten oft auch Diskurselemente, die als interdiskursiv bezeichnet werden können.<br />

So verdichteten sich in der von den Berner Sachverständigen im Fall von Hans Rudolf W. verwendete<br />

Metapher des «zusammenstürzenden Kartenhauses» über einen individualpathologischen Willensdiskurs<br />

hinaus die Ängste bürgerlicher Mittel- <strong>und</strong> Oberschichtmänner vor einem individuellen <strong>und</strong> kollektiven<br />

1103 Steiger, 1901, 32.<br />

264

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!