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Psychiatrie und Strafjustiz

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1 Einleitung<br />

Zwischen 1890 <strong>und</strong> 1950 befasste sich die Standesorganisation der Schweizer Psychiater wiederholt <strong>und</strong><br />

intensiv mit der Vereinheitlichung <strong>und</strong> Reform des Strafrechts in der Schweiz. Erstmals stand die Straf-<br />

rechteinheit im Mai 1893 auf der Traktandenliste des Vereins schweizerischer Irrenärzte. Diskussionsgr<strong>und</strong>lage<br />

bildete ein Referat, in dem der Direktor der Berner Irrenanstalt Waldau, Wilhelm von Speyr (1852–1939),<br />

die Haltung der Disziplin gegenüber der Rechtseinheit prägnant zum Ausdruck brachte: «Ein solches eid-<br />

genössisches Strafgesetz kann uns Irrenärzten nur erwünscht sein, <strong>und</strong> ich glaube, wir sollten es mit Freu-<br />

de begrüssen. Es geht uns jedenfalls an, <strong>und</strong> wir haben ein Recht <strong>und</strong> eine Pflicht, uns damit zu beschäfti-<br />

gen.» 2 Die in Chur versammelten Irrenärzte zögerten keineswegs, das postulierte Mitspracherecht zu bean-<br />

spruchen. Im Anschluss an von Speyrs Referat verabschiedeten sie einstimmig vier Postulate, deren Um-<br />

setzung sie sich vom künftigen schweizerischen Strafgesetzbuch erhofften. Zwei dieser Postulate betrafen<br />

die Definition der strafrechtlichen Verantwortlichkeit, zwei die Bestimmungen über die Verwahrung <strong>und</strong><br />

Versorgung geistesgestörter DelinquentInnen. 3 Auch ein halbes Jahrh<strong>und</strong>ert später, im Juni 1944, stand<br />

das Strafgesetzbuch auf der Traktandenliste des 1918 in Schweizerische Gesellschaft für <strong>Psychiatrie</strong> umbenannten<br />

Vereins. Fünfzig Jahre nach der Versammlung von 1893 präsentierte sich die Ausgangslage indes gänzlich<br />

anders: das Strafgesetzbuch war nach einem ausserordentlich langen Gesetzgebungsprozess am 1. Januar<br />

1942 in Kraft getreten, so dass die Schweizer Psychiater nun eine erste Bilanz der von ihnen mitgetrage-<br />

nen Strafrechtseinheit ziehen konnten. Von einer Euphorie über das Erreichte war im Sommer 1944 aller-<br />

dings nicht viel zu spüren. In seiner Eröffnungsansprache verhehlte Max Müller (1894–1980), Präsident<br />

der Gesellschaft <strong>und</strong> Direktor der Berner Irrenanstalt Münsingen, die Ernüchterungen vieler Psychiater<br />

über das neue Gesetz keineswegs: «Erst die Praxis seit Einführung des StGB hat vielen unter uns Proble-<br />

me enthüllt <strong>und</strong> Schwierigkeiten aufgedeckt, die vorher nur dem zugänglich waren, der die Arbeit in den<br />

beratenden Kommissionen genau verfolgt hat, <strong>und</strong> es versteht, die trockenen Formulierung der Paragra-<br />

phen schon beim Lesen lebendig werden zu lassen.» Müller <strong>und</strong> seine Fachkollegen beklagten sich vor<br />

allem über die massive Zunahme der Begutachtungsaufträge <strong>und</strong> der in den Irrenanstalten zu verwahren-<br />

den StraftäterInnen. Damit orteten sie den «akuten Notstand» just in jenen beiden Bereichen, die bereits<br />

1893 auf der Traktandenliste der Irrenärzte gestanden hatten. 4<br />

Die Versammlungen der Schweizer Psychiater von 1893 <strong>und</strong> 1944 verdeutlichen gleichsam den zeitlichen<br />

<strong>und</strong> thematischen Spannungsbogen der vorliegenden Untersuchung. Unter dem Eindruck der Theorien<br />

der italienischen Kriminalanthropologen <strong>und</strong> der Entwicklung neuer psychiatrischer Deutungsmuster<br />

sahen die Schweizer Psychiater seit den 1880er Jahren in der Ausweitung ihres Tätigkeitsbereichs im Be-<br />

reich des Strafrechts eine zukunftsträchtige Strategie, mit der sie einer neuen Rationalität des Strafens <strong>und</strong><br />

der sozialen Kontrolle zum Durchbruch verhelfen wollten. Mittels einer weitgehenden Medikalisierung<br />

kriminellen Verhaltens, das heisst der Verankerung medizinischer Deutungsmuster sowie Behandlungs-<br />

<strong>und</strong> Versorgungskonzepten in der Strafrechtspflege, sollte einem humanwissenschaftlichen Strafwissen<br />

Rechnung getragen werden, das kriminelles Verhalten nicht mehr primär als Folge individuellen Verschul-<br />

dens, sondern als Ausdruck einer abnormen psychisch-organischen Konstitution ansah. Dieser wissen-<br />

schaftsgläubige Optimismus bildete auch den Hintergr<strong>und</strong> für das rechtspolitische Engagement der<br />

Schweizer Irrenärzte, das mit den Beschlüssen von 1893 seinen Anfang nahm. Spätestens nach dem Ende<br />

des Ersten Weltkriegs wich diese anfängliche Zuversicht indes einer Skepsis über die institutionellen Mög-<br />

2 Speyr, 1894, 183.<br />

3 BAR E 4110 (A) -/42, Band 21, Protokoll der Versammlung des Vereins schweizerischer Irrenärzte in Chur am 22. u. 23. Mai<br />

1893.<br />

4 SLB V CH 2574, Protokoll der Schweizerischen Gesellschaft für <strong>Psychiatrie</strong>, 1944, 3-5.<br />

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