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Psychiatrie und Strafjustiz

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ihrer Kritik uneins waren. 89 Bis heute liegen für den deutschsprachigen Raum lediglich einzelne Aufsätze<br />

<strong>und</strong> Monographiekapitel zur Geschichte der forensischen <strong>Psychiatrie</strong> vor. 90 Besser sieht die Forschungsla-<br />

ge für den angelsächsischen Raum aus, wo unter anderem Roger Smith <strong>und</strong> Joel Eigen umfassende Stu-<br />

dien zur Praxis der insanity plea vorgelegt haben. Aufgr<strong>und</strong> der unterschiedlichen Rechtstraditionen lässt<br />

sich die angelsächsische Entwicklung allerdings nur bedingt mit derjenigen im kontinentalen Europa ver-<br />

gleichen. 91 Die vorliegenden Forschungsarbeiten zu kontinentaleuropäischen Ländern zeichnen sich zu-<br />

dem durch eine starke Konzentration auf die Ebene der medizinischen <strong>und</strong> juristischen Kriminalitätsdiskurse aus,<br />

wobei die Entstehung der modernen Kriminologie <strong>und</strong> die Entwicklung psychiatrischer Deutungsmuster<br />

kriminellen Verhaltens sowie die juristisch-psychiatrische Kompetenzkonflikte in der ersten Hälfte des 19.<br />

Jahrh<strong>und</strong>erts im Vordergr<strong>und</strong> stehen. 92 Bezüge zur gerichtspsychiatrischen Praxis finden sich darin meist<br />

nur am Rande. Kaum diskutiert wird in vielen Studien etwa die Relevanz der analysierten Diskurse für die<br />

Beurteilung von StraftäterInnen in der Justizpraxis.<br />

Wichtige Bezugspunkte für die vorliegende Untersuchung bilden dagegen die vergleichsweise seltenen<br />

Forschungsansätze, die eine exemplarische Rekonstruktion der forensisch-psychiatrischen Praxis anhand von Einzelfällen<br />

anstreben. Einen ersten Versuch in diese Richtung unternahm Michel Foucault 1973 mit der Publika-<br />

tion der Materialsammlung Moi, Pierre Rivière..., die verschiedene Dokumente über den mehrfach begutach-<br />

teten Mörder Rivière enthält. 93 Vor allem die erwähnten angelsächsischen Historiker haben seit den 1980er<br />

Jahren den Ansatz aufgegriffen, die forensisch-psychiatrische Praxis anhand von Einzelfällen zu<br />

rekonstruieren. Im Vordergr<strong>und</strong> stand dabei die Formation eines juristisch-psychiatrischen Strafwissens,<br />

das sich weniger in kriminologischen Fachdiskursen als im Umfeld konkreter Konstellationen konstituiert.<br />

Seit einigen Jahren liegen auch für den deutschen Sprachraum ähnliche Untersuchungen vor. Maren Lo-<br />

renz hat aufgr<strong>und</strong> publizierter Gutachtensammlungen die unterschiedliche Beurteilung von «Seelen vor<br />

Gericht» durch Laien <strong>und</strong> Ärzte im 18. Jahrh<strong>und</strong>ert herausgearbeitet. Doris Kaufmann hat dagegen die<br />

Begutachtungspraxis der medizinischen Fakultät Tübingen zwischen 1760 <strong>und</strong> 1860 einer näheren<br />

Untersuchung unterzogen <strong>und</strong> die Gutachten der Tübinger Ärzte in den Kontext der Willenssemantik<br />

bürgerlicher Strafdiskurse <strong>und</strong> der juristisch-medizinischen Kompetenzstreitigkeiten gestellt. 94 Die<br />

Untersuchungen von Lorenz <strong>und</strong> Kaufmann beruhen allerdings vorwiegend auf medizinischen Quellen.<br />

Dies hat zur Folge, dass der Kontext der Strafverfahren, deren Bestandteil die Begutachtungen sind,<br />

weitgehend ausgeblendet bleibt. Auf Gerichtsakten stützt sich dagegen die jüngst erschienene Studie von<br />

Martin Lengwiler über die forensisch-psychiatrische Praxis vor einem bayerischen Militärgericht zwischen<br />

89 So plädiert der prominente <strong>Psychiatrie</strong>kritiker Thomas Szasz dafür, auch vermeintlich geisteskranke Personen für ihr Verhalten<br />

strafrechtlich zur Verantwortung zu ziehen (Szasz, 1997, 301). Tilmann Moser hat dagegen gerade die restriktive Exkulpationspraxis<br />

der deutschen Kriminalpsychiatrie angeprangert (Moser, 1971).<br />

90 Eine wichtige Ausnahme stellt Güse/Schmacke, 1976, 187-321, dar.<br />

91 Ward, 1997; Eigen, 1995; Mohr, 1993, 57-66, 140-153, 164-179; Moran, 1981; Smith, 1981; Walker, 1968. Einen Überblick über<br />

die Forschung zur Gerichtspsychiatrie im angelsächsischen Raum bietet Menzies, 2001. Zu Frankreich: Darmon, 1989. Zur Problematik<br />

der angelsächsisch-kontinentalen Rechtsvergleichs in Bezug auf das Jugendstrafrecht: Oberwittler, 2000. Zur britischen<br />

Kriminalpolitik allgemein: Garland, 1985.<br />

92 Vgl. zur Entstehung der modernen Kriminologie <strong>und</strong> zur Entwicklung psychiatrischer Deutungsmuster kriminellen Verhaltens:<br />

Wetzell, 2000; Regener, 1999; Roelcke, 1999; Debuyst, 1998; Debuyst, 1995; Gadebusch Bondio, 1995; Mucchielli 1994; Pasquino,<br />

1991; Nye, 1984. Für die Zeit vor 1800: Fischer-Homberger, 1983, 116-174. Für weitere Hinweise siehe auch die Anmerkungen<br />

zu den Kapitel 2 <strong>und</strong> 3. Ebenfalls zu nennen sind in diesem Zusammenhang Untersuchungen zur Genese einer «Psychopathia<br />

sexualis»: Oosterhuis, 2000; Klab<strong>und</strong>t, 1994; Lukas/Wernz/Lederer, 1994; Hutter, 1992; Wettley, 1956. Zu den juristischpsychiatrischen<br />

Kompetenzstreitigkeiten in der ersten Hälfte des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts: Greve, 1999; Martschukat, 1997; Goldstein,<br />

1987; Reuchlein, 1985. Kritisch in bezug auf die Praxisrelevanz solcher juristisch-psychiatrischer Kompetenzstreitigkeiten: Chauvaud,<br />

2000, 262, Fussnote 3; Kaufmann, 1995, 325.<br />

93 Foucault, 1973. Foucault realisierte damit ein Forschungsvorhaben, das er bei seinem Amtsantritt am Collège de France selbst<br />

formuliert hatte <strong>und</strong> das, indem es auf die quellenbasierte Rekonstruktion konkreter Einzelfälle fokussierte, auch gegenüber seinen<br />

eigenen diskursanalytischen Arbeiten neue Akzente setzte; vgl. Foucault, 1991, 40; Eribon, 229f. Ähnliche Materialsammlungen<br />

sind inzwischen auch über zwei berühmte Kriminalfälle der Weimarer Republik erschienen: Pozsár/Farin, 1995;<br />

Lenk/Kaever, 1991.<br />

94 Lorenz, 1999; Kaufmann, 1995.<br />

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