13.09.2013 Aufrufe

Psychiatrie und Strafjustiz

Psychiatrie und Strafjustiz

Psychiatrie und Strafjustiz

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.

YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.

1747) begründete 1740 den ärztlichen Deutungsanspruch gegenüber der Justiz mit der somatischen Natur<br />

der Geisteskrankheiten. Sein Sohn, Ernst Platner (1744–1818), rechtfertigte 1797 den Zuzug der Ärzte bei<br />

der Beurteilung von DelinquentInnen dagegen mit dem Vorhandensein einer «Amentia occulta», einer<br />

Form von Geisteskrankheit, die für medizinische Laien nicht erkennbar sein sollte. Ebenfalls über den<br />

Anspruch des älteren Platner hinaus ging der Königsberger Arzt Daniel Metzger (1739–1805). In seinem<br />

gerichtsmedizinischen Lehrbuch von 1793 reklamierte er die Beurteilung des Wahnsinns vor Gericht für<br />

die Ärzteschaft, da nur diese über genügend Kenntnisse in der «empirischen Psychologie» verfügen wür-<br />

de. 161 Der mit neuer Vehemenz vorgebrachte medizinische Kompetenz- <strong>und</strong> Deutungsanspruch stiess in<br />

der Rechtspraxis bald auf Resonanz. 162 In Deutschland konsultierten die Justizbehörden spätestens seit der<br />

Mitte des 18. Jahrh<strong>und</strong>erts die medizinischen Fakultäten bei der Beurteilung zweifelhafter Geisteszustän-<br />

de. 163 Die erwähnten Beispiele aus Genf <strong>und</strong> Zürich belegen, dass auch in der Schweiz bereits im 18. Jahr-<br />

h<strong>und</strong>ert ärztliche Begutachtungen zweifelhafter Gemütszustände zum Justizalltag gehörten. 164 Das Bei-<br />

spiel Zürichs zeigt aber auch, dass sich der Anspruch der Ärzte, über Geisteszustände von StraftäterInnen<br />

zu befinden, gegenüber andern Berufsgruppen, namentlich gegenüber der Geistlichkeit, behaupten muss-<br />

te. 165 Die Akzentuierung des medizinischen Kompetenz- <strong>und</strong> Deutungsanspruchs hatte zur Folge, dass<br />

sich die ärztliche Sachverständigentätigkeit vor Gericht um die Wende zum 19. Jahrh<strong>und</strong>ert zusehends<br />

von traditionellen gerichtsmedizinischen Aufgaben wie der Leichen- oder W<strong>und</strong>schau auf die Beurteilung<br />

zweifelhafter Geisteszustände ausweitete. 166 Damit zeichnete sich gleichsam eine neue strukturelle Koppe-<br />

lung zwischen <strong>Strafjustiz</strong> <strong>und</strong> Medizin ab. Die «Gerichtliche Arzneik<strong>und</strong>e» erschloss sich dadurch einen<br />

Gegenstandsbereich, der für die Weiterentwicklung <strong>und</strong> Ausdifferenzierung der Disziplin ein beträchtli-<br />

ches Potenzial barg.<br />

Im ersten Drittel des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts geriet der medizinische Kompetenz- <strong>und</strong> Deutungsanspruch indes<br />

unter erheblichen Druck seitens benachbarter Disziplinen. So forderte Kant 1798 in seiner Anthropologie in<br />

pragmatischer Hinsicht, dass die Beurteilung zweifelhafter Geisteszustände vor Gericht Sache der philosophi-<br />

schen <strong>und</strong> nicht der medizinischen Fakultät sei: «Denn die Frage: ob der Angeklagte bei seiner Tat im<br />

Besitze seines natürlichen Verstandes- <strong>und</strong> Beurteilungsvermögens gewesen sei, ist gänzlich psychologisch<br />

<strong>und</strong>, obgleich körperliche Verschrobenheit der Seelenorgane vielleicht wohl bisweilen die Ursache einer<br />

unnatürlichen Übertretung des [...] Pflichtengesetzes sein möchte, so sind die Ärzte <strong>und</strong> Physiologen<br />

überhaupt doch nicht so weit, um das Maschinenwesen im Menschen so tief einzusehen, dass sie die An-<br />

wandlung einer solchen Gräueltat daraus erklären oder [...] sie vorher sehen könnten [...].» 167 Vor allem<br />

Kants Königsberger Kollege, der erwähnte Daniel Metzger, parierte den Frontalangriff auf die Kompe-<br />

tenzen der Ärzte. In der zweiten Auflage seines gerichtsmedizinischen Lehrbuchs befleissigte er sich,<br />

Kants Argumente zu widerlegen. Metzger begründete den Anspruch der Ärzte zunächst durch die körper-<br />

liche Natur der Seelenstörungen. Zudem sei die Philosophie, zu der die Psychologie gehöre, in sich zer-<br />

stritten <strong>und</strong> würde keine einheitliche Schule bilden. Schliesslich sei der Arzt aufgr<strong>und</strong> seiner Erfahrung in<br />

der Regel auch ein vorzüglicher «empirischer Psychologe». 168 Der «Königsberger Gelehrtenstreit» zwi-<br />

schen Kant <strong>und</strong> Metzger fand rasch Eingang in die gerichtsmedizinische Literatur. Ärzte aller Schulen<br />

161 Fischer-Homberger, 1983, 138, 153, 161f., 164f.<br />

162 Davon zeugen beispielhaft die zahlreichen veröffentlichten medizinischen Gutachtensammlungen aus dem 18. Jahrh<strong>und</strong>ert;<br />

vgl. Lorenz, 1999, 56, 255-263; Kaufmann, 1995, 308.<br />

163 Kaufmann, 1995, 310, 325-334.<br />

164 Barras, 1990; Günter, 1987.<br />

165 Günter, 1987, 125-134.<br />

166 Greve, 1999, 72-75.<br />

167 Kant [1798], 1975, 528f.<br />

168 Vgl. die Zusammenfassung der Diskussion in Hoffbauer, 1823, 5-8; Friedreich, 1835, 199-203.<br />

45

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!