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Psychiatrie und Strafjustiz

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Gesellschaft bezweckende Psychologie bilden wird.» 569 Was dem Direktor des Burghölzli vorschwebte,<br />

war ein nach psychiatrischen <strong>und</strong> pädagogischen Behandlungs- <strong>und</strong> Versorgungsmodellen organisierter<br />

Strafvollzug. Auch von Speyr betonte in seinem Churer Referat, dass sich die Bestrebungen der Irrenärzte<br />

keineswegs in der Forderung nach einer medizinischen Definition der Zurechnungsfähigkeit erschöpfen<br />

konnten. Gefordert seien darüber hinaus Massnahmen zur «Unschädlichmachung» von «verbrecherischen<br />

Geisteskranken», die für die öffentliche Sicherheit eine «Gefahr» darstellen würden: «Wir müssen gewiss<br />

noch wünschen, dass sich das Strafgesetz nicht damit begnüge, die Straflosigkeit des Unzurechnungsfähi-<br />

gen auszusprechen. Ein Geisteskranker, der ein Verbrechen begangen hat, ist unter Umständen gefährlicher,<br />

als ein ges<strong>und</strong>er Verbrecher. Er muss darum unschädlich gemacht werden, d.h. angemessen versorgt<br />

werden.» 570 Ganz im Sinne dieses Diskurses der «sozialen Verteidigung» sahen die Vorschläge der Ver-<br />

einskommission die Aufnahme zweier Bestimmungen ins Strafgesetzbuch vor, die dem urteilenden Ge-<br />

richt ermöglichten, eine Verwahrung oder Versorgung unzurechnungsfähiger oder vermindert zurech-<br />

nungsfähiger StraftäterInnen anzuordnen. 571 Mit diesen Verwahrungs- <strong>und</strong> Versorgungsbestimmungen<br />

machten die Schweizer Psychiater klar, dass sie bereit waren, auch im Vollzugsbereich zu einer arbeitsteili-<br />

gen Kriminalitätsbekämpfung beizutragen. Ein medizinisch kontrollierter Massnahmenvollzug trug in<br />

ihren Augen wesentlich zu der von den Strafrechtsreformern geforderten teilweisen Individualisierung des<br />

Strafrechts bei. Mit der Übernahme von Behandlungs- <strong>und</strong> Verwahrungsfunktionen konnten sich die<br />

Psychiater als Garanten für die öffentliche Sicherheit <strong>und</strong> eine moderne, regulative Strafrechtspflege pro-<br />

filieren.<br />

Genau betrachtet beschritten die Vorschläge der Irrenärzte indes nur teilweise Neuland. Denn bereits die<br />

meisten kantonalen Strafgesetze enthielten Bestimmungen, die die Einweisung unzurechnungsfähiger<br />

DelinquentInnen in Irrenanstalten ermöglichten. 572 So erlaubte beispielsweise Artikel 47 des Berner Straf-<br />

gesetzbuchs den Richtern, beim Regierungsrat «Sicherungsmassregeln» gegen unzurechnungsfähige <strong>und</strong><br />

«gemeingefährliche» StraftäterInnen zu beantragen. 573 In andern Kantonen stand die Kompetenz zur Ver-<br />

hängung solcher Massregeln sogar direkt den Gerichten zu. In Bezug auf unzurechnungsfähige Delin-<br />

quentInnen bedeuteten die Vorschläge der Irrenärzte somit primär eine Vereinheitlichung <strong>und</strong> allenfalls<br />

eine Intensivierung der bisherigen Rechtspraxis. Neu war freilich, dass Massregeln nicht nur zum Zweck<br />

der Sicherung, sondern auch zum Zweck auch der Behandlung <strong>und</strong> Versorgung vorgesehen waren. Eine<br />

eigentliche Ausweitung des Zuständigkeitsgebiets der <strong>Psychiatrie</strong> implizierten die Vorschläge der Irrenärz-<br />

te dagegen bezüglich der vermindert zurechnungsfähigen StraftäterInnen. Dieser Aspekt wird im nächsten<br />

Abschnitt vertieft. Die Vorschläge der Irrenärzte sahen zudem vor, die Befugnis zur Anordnung <strong>und</strong> Auf-<br />

hebung von Massnahmen künftig generell dem Strafrichter <strong>und</strong> nicht, wie es etwa im Kanton Bern der<br />

Fall war, einer administrativen Behörde zu übertragen. Wie auch bei den übrigen sichernden Massnahmen<br />

des Vorentwurfs von 1893 handelte es sich hier um eine Verlagerung verwaltungsrechtlicher Bestimmun-<br />

gen ins Strafrecht. In den Augen der Psychiater liess sich dadurch verhindern, dass Widerstände der Hei-<br />

matgemeinden, die Kosten für die Internierung in einer Irrenanstalt zu übernehmen, zu einer laxen Ver-<br />

wahrungs- <strong>und</strong> Versorgungspraxis führten. Gleichzeitig bot eine Anordnung durch das Gericht Garantien<br />

569 Forel, 1889, 16.<br />

570 Speyr, 1894, 187.<br />

571 BAR E 4110 (A) -/42, Band 21, Protokoll der Versammlung des Vereins der Schweizer Irrenärzte in Chur am 22. u. 23. Mai<br />

1893.<br />

572 Wüst, 1905, 58-67.<br />

573 StGB BE 1866, Art. 47, zur Verwahrungspraxis im Kanton Bern siehe die Ausführungen in Kp. 8.<br />

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