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Psychiatrie und Strafjustiz

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nahme bildete allerdings die Beurteilung der Trunkenheitsdelikte. Dabei stand die Frage im Zentrum,<br />

inwieweit sich Zustände der Trunkenheit unter den Rechtsbegriff der «Bewusstlosigkeit» subsumieren<br />

liessen <strong>und</strong> ob StraftäterInnen, die unter Einfluss von Alkohol straffällig geworden waren, für ihre Hand-<br />

lungen zur Rechenschaft gezogen werden konnten. Diese in juristischer Hinsicht reichlich komplexe<br />

Problematik besass einen hohen politischen Symbolwert, war doch damit die Frage nach den Grenzen der<br />

strafrechtlichen Verantwortlichkeit in einem Bereich verb<strong>und</strong>en, der traditionellerweise von moralisieren-<br />

den Deutungsmustern besetzt war. Die Parlamentsdebatte war denn auch durch eine Verfeinerung der<br />

strafrechtlichen Schuldlehre geprägt, die der von vielen Parlamentariern befürchteten Ausweitung der<br />

Exkulpationspraxis von vornherein einen Riegel schieben sollte. 1373<br />

Die Frage, ob eine selbstverschuldete Bewusstlosigkeit durch Alkoholkonsum eine Verminderung oder gar<br />

Aufhebung der Zurechnungsfähigkeit bewirke, war erstmals in der Expertenkommission für die Revision<br />

des Militärstrafrechts zur Sprache gekommen. 1374 Der B<strong>und</strong>esrat hatte die Problematik dann aber 1918 in<br />

den Botschaften zum Militärstrafgesetzbuch <strong>und</strong> Strafgesetzbuch nicht weiter verfolgt. Bei der Beratung<br />

des Militärstrafgesetzbuchs diskutierte das Parlament die Frage äusserst kontrovers, so dass erst in der<br />

Differenzbereinigung ein Durchbruch gelang. 1375 Die definitive Fassung des Militärstrafgesetzbuchs<br />

schloss schliesslich jene Straftäter von einer Exkulpation aus, die eine Bewusstlosigkeit durch Trunkenheit<br />

vorsätzlich herbeiführten (so genannte actio libera in causa). Dadurch sollte verhindert werden, dass sich<br />

Delinquenten vor dem Begehen eines Delikts betranken, um dadurch in den Genuss einer verminderten<br />

Schuldfähigkeit zu gelangen. Delinquenten, die ihre Bewusstlosigkeit lediglich fahrlässig herbeigeführt<br />

hatten, gingen dagegen für das eingeklagte Delikt straffrei aus, konnten jedoch für die Trunkenheit an sich<br />

belangt werden. 1376 Die Nationalratskommission beschloss 1922, die Bestimmung über die actio libera in<br />

causa ins bürgerliche Strafgesetzbuch zu übernehmen, jedoch ohne den Zusatz über die fahrlässige Trun-<br />

kenheit. 1377<br />

Der Kommissionsvorschlag wurde im Ratsplenum durch den Arzt <strong>und</strong> Abstinenten Hans Hoppeler mas-<br />

siv angegriffen, der sich daran stiess, dass dadurch fahrlässig betrunkene DelinquentInnen straflos ausge-<br />

hen konnten: «Art. 10 sagt nicht mehr <strong>und</strong> nicht weniger, dass künftig alles, was in schwerem Rausch ge-<br />

schieht [...] straflos sei, ausser wenn Sie dem Betreffenden nachweisen können, dass er sich absichtlich<br />

betrunken gemacht hat zu dem Zwecke, die betreffende Tat auszuführen.» 1378 Für Hoppeler waren Alko-<br />

hol- <strong>und</strong> Drogenkonsum an sich schuldhafte Verhaltensweisen. Es ging in seinen Augen nicht an, dass der<br />

Staat Taten, die unter Einfluss von Rauschmitteln zustande kamen, unter Umständen von Strafe ausnahm.<br />

Hoppeler forderte eine strafrechtliche Kausalhaftung für im Rauschzustand begangene Delikte, deren<br />

Bestrafung unabhängig von Vorsatz oder Fahrlässigkeit festzusetzen war. Dabei brach er aber keineswegs<br />

mit dem von ihm hochgehaltenen Schuldprinzip. Er sah die Schuld vielmehr im Vorfeld der Tat, im Le-<br />

benswandel des Täters: «Einer, der im Rauschzustand ein Delikt begeht, hätte es nicht begangen, wenn er<br />

vielleicht in den vorhergehenden Jahren sich nicht immer hätte gehen lassen. Wenn im Chloroformrausch<br />

einer flucht wie ein Henker, so tut er es eben nur, weil er vorher im gewöhnlichen Leben schon geflucht<br />

hat wie ein Henker. Die Wurzeln der Schuld liegen also tiefer.» 1379 In Hoppelers Votum verband sich eine<br />

1373 Vgl. Gschwend, 1996, 602-609.<br />

1374 Gschwend, 1996, 590f.<br />

1375 Vgl. Sten. Bull. SR, 1921, 230-236; Sten. Bull. SR, 1922, 151-160; Sten. Bull. NR, 1924, 647-660; eine Zusammenfassung der<br />

Debatte befindet ich bei: Gschwend, 1996, 592-597.<br />

1376 Artikel 9 <strong>und</strong> 80 des Militärstrafgesetzbuchs von 1921 (AS 1927, 362, 379).<br />

1377 BAR E 4110 (A) -/42, Band 63, Protokoll der Kommission des Nationalrats betreffend das schweizerische Strafgesetzbuch, 5.<br />

Mai 1922.<br />

1378 Sten. Bull. NR, 1928, 78.<br />

1379 Sten. Bull. NR, 1928, 85. Hoppeler wurde von den Nationalräten Bossi (GR) <strong>und</strong> Biroll (SG) unterstützt.<br />

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