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Psychiatrie und Strafjustiz

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funktionen wahrnahmen. Im Zeichen einer (wieder) verstärkt auf den Schutz der Gesellschaft vor «gefähr-<br />

lichen Individuen» bedachten Kriminalpolitik richteten verschiedene Kantone in den 1990er Jahren zu-<br />

dem forensisch-psychiatrische Dienste ein, die teils dem Verwaltungsapparat, teils der Universität ange-<br />

gliedert sind. Damit verb<strong>und</strong>en war die Formierung einer Gruppe von Psychiatern, die sich ausschliesslich<br />

mit forensisch-psychiatrischen Fragen beschäftigten <strong>und</strong> den Schwerpunkt ihrer Tätigkeit definitiv nicht<br />

mehr in der Beurteilung der strafrechtlichen Verantwortlichkeit, sondern im Erstellen von Legalprognosen<br />

über das künftige Verhalten «gemeingefährlicher» StraftäterInnen sahen. 1632 Diese erneuten Lern- <strong>und</strong><br />

Transformationsprozesse, die von der Infragestellung der «repressiven Kriminalpsychiatrie» durch eine<br />

psychoanalytisch orientierte Sozialpsychiatrie in den 1970er Jahren bis zur aktuellen Debatte um eine erneute<br />

Verschärfung des Massnahmenrechts reichen, weisen über den zeitlichen <strong>und</strong> thematischen Fokus<br />

dieser Untersuchung hinaus auf die Gegenwart.<br />

Ausblick<br />

Die zeitliche <strong>und</strong> thematische Ausrichtung dieser Untersuchung markiert zugleich deren Grenzen. Der<br />

Fokus auf die strukturelle Koppelung zwischen <strong>Strafjustiz</strong> <strong>und</strong> <strong>Psychiatrie</strong> über den Rechtsbegriff der<br />

Zurechnungsfähigkeit erlaubte, die Funktionsweise eines Praxisfelds aufzuzeigen <strong>und</strong> die damit verb<strong>und</strong>e-<br />

nen kriminalpolitischen Debatten zu analysieren. Die forensische Tätigkeit der Schweizer Psychiater be-<br />

schränkte sich indes keineswegs auf den Bereich des Strafrechts. Wie neuere Untersuchungen zeigen, er-<br />

hielten psychiatrische Gutachten im Untersuchungszeitraum auch im Zivil- <strong>und</strong> Vorm<strong>und</strong>schaftsrecht<br />

eine wachsende Bedeutung. Die vorliegende Untersuchung hat zudem deutlich gemacht, dass sich der<br />

forensisch-psychiatrische Tätigkeitsbereich seit Beginn des 20. Jahrh<strong>und</strong>erts von Begutachtungsaufgaben<br />

zunehmend auf den Vollzug sichernder Massnahmen ausweitete. Dabei kam es zu einer Überlagerung<br />

straf-, zivil- <strong>und</strong> verwaltungsrechtlicher Dispositive. Straf- <strong>und</strong> administrativrechtliche Anstaltseinweisun-<br />

gen, Entmündigungen, Überwachungen durch Bewährungshilfe <strong>und</strong> Fürsorge sowie eugenische Mass-<br />

nahmen wurden zu flexibel einsetzbaren Kontrollinstrumenten innerhalb eines eingespielten Netzwerks<br />

aus Justizinstanzen, Verwaltungsbehörden <strong>und</strong> <strong>Psychiatrie</strong>. Innerhalb dieses Netzwerks, das sich seit dem<br />

letzten Drittel des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts zusehends ausdifferenzierte, gewannen regulative Strategien an Ge-<br />

wicht, die soziale Devianz mittels einer Kombination aus repressiven <strong>und</strong> integrativen Massnahmen zum<br />

Verschwinden bringen sollten. Voraussetzung dazu war die Inanspruchnahme eines humanwissenschaftli-<br />

chen Expertenwissens, das soziale Devianz <strong>und</strong> Kriminalität in psychopathologische Sinnzusammenhänge<br />

stellte <strong>und</strong> zugleich Hand zu einer individualisierenden Behandlung der betroffenen Männer <strong>und</strong> Frauen<br />

bot. Im Einklang mit anderen Studien weist die vorliegende Untersuchung darauf hin, dass die Bewälti-<br />

gung sozialer Devianz in modernen Gesellschaften als ein arbeitsteiliger Prozess anzusehen ist, der struk-<br />

turelle Koppelungen <strong>und</strong> Koordinationsleistungen zwischen unterschiedlichen Bezugssystemen, Instanzen<br />

<strong>und</strong> Akteuren voraussetzt. Für ein umfassenderes Verständnis des Umgangs der Moderne mit sozialer<br />

Devianz <strong>und</strong> Kriminalität wird es deshalb unerlässlich sein, den zwangsläufig beschränkten Fokus dieser<br />

<strong>und</strong> anderer Untersuchungen auf Bereiche wie die Administrativjustiz, den Strafvollzug <strong>und</strong> das Fürsor-<br />

gewesen auszuweiten. Erst dann wird es möglich sein, das Funktionieren <strong>und</strong> den Wandel dieses Komple-<br />

xes der sozialen Kontrolle <strong>und</strong> der von ihm unablässig produzierten Grenzziehungen zu verstehen.<br />

1632 Vgl. Bauhofer, 2000; Maier/Möller, 1999; Maier/Urbaniok, 1998; Dittmann, 1996; Amsel-Kamerou/Nelles, 1993.<br />

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