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Psychiatrie und Strafjustiz

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9 Vom Optimismus zur Ernüchterung: Forensisch-psychiatrische Debatten in der Zwischenkriegszeit<br />

1926 referierte Eugen Bleuler vor dem Zürcher Hilfsverein für Geisteskranke über die «irrenärztliche Begutachtung<br />

von Verbrechern» <strong>und</strong> verwahrte sich dabei unter anderem gegen den Vorwurf, die Psychiater<br />

hätten die «Marotte», «alles für geisteskrank erklären zu wollen». Solchen Unterstellungen seitens medizini-<br />

scher Laien hielt er entgegen: «Es muss jemand doch eine sonderbare Vorstellung von der Welt haben,<br />

wenn er sich denken kann, dass es eine Liebhaberei von irgend jemandem sein könne, sich Verbrecher in<br />

seinem Haus zu halten, von denen viele nur darauf sinnen, die Ordnung zu umgehen, durchzubrennen,<br />

allerlei Stänkereien zu machen, die die Heilung der moralisch anständigen Kranken erschweren <strong>und</strong> noch<br />

manches andere Böse tun.» Bleuler setzte sich aber nicht nur gegen den Vorwurf einer ungerechtfertigten<br />

Verwahrung von DelinquentInnen in Irrenanstalten zur Wehr, sondern stellte auch Profilierungsbestre-<br />

bungen seiner Disziplin im Zusammenhang mit forensisch-psychiatrischen Begutachtungen in Abrede:<br />

«Und dass die Ärzte sich zu der Begutachtung nicht zudrängen, sondern dieselbe als eine unangenehme<br />

Pflicht auf sich nehmen, wird nach dem im Anfang Gesagten einleuchtend sein.» 1205 Wenngleich Bleulers<br />

eigene Ausführungen nicht frei von polemischen Unterstellungen waren, so kommt darin doch eine Er-<br />

nüchterung über den forensischen Tätigkeitsbereich der Disziplin zum Ausdruck, die angesichts der im<br />

zweiten Teil dieser Untersuchung beschriebenen Ausweitung der forensisch-psychiatrischen Praxis be-<br />

merkenswert erscheint. Dies umso mehr, als Bleulers Klage über die «unangenehme Pflicht» keineswegs<br />

isoliert dasteht. Bereits vor dem Ersten Weltkrieg verbreitete sich unter Schweizer Psychiatern vermehrt<br />

Skepsis über die Fähigkeit der Disziplin, erfolgreich an der gesellschaftlichen Bewältigung kriminellen<br />

Verhaltens mitzuwirken, wie dies von den Kriminalpolitikern der Disziplin in den 1890er Jahren lauthals<br />

gefordert worden war. Hatten führende Schweizer Psychiater wie Forel oder Bleuler um die Jahrh<strong>und</strong>ert-<br />

wende in der Forensik noch ein attraktives Feld beruflicher Profilierung gesehen, so verwandelte sich<br />

dieser Aufgabenbereich eine Generation später mehr <strong>und</strong> mehr in eine problematisch gewordene Pflicht-<br />

übung, welche die <strong>Psychiatrie</strong>ärzte von andern Tätigkeiten abhielt. Die von Bleuler 1926 vorgebrachte<br />

Skepsis steht aber nicht nur im deutlichen Gegensatz zu der von ihm selbst dreissig Jahre früher vertrete-<br />

nen radikalen Kriminalpolitik, sondern auch zu dem in der jüngeren Schweizer Geschichtsschreibung<br />

gezeichneten Bild einer auf die Ausweitung ihres Kompetenzbereichs bedachten psychiatrischen Diszip-<br />

lin. 1206 Die folgende Analyse forensisch-psychiatrischer Diskurse der Zwischenkriegszeit zeigt, dass die<br />

Vorstellung eines «Siegeszugs der <strong>Psychiatrie</strong>» (Nadja Ramsauer) der komplexen Entwicklungsdynamik<br />

des forensisch-psychiatrischen Praxisfelds keineswegs gerecht wird. 1207 Deutlich wird vielmehr, dass die<br />

Modifikation der kriminalpolitischen Positionen der psychiatrischen Disziplin zu einem wesentlichen Teil<br />

von Problemkonstellationen bestimmt wurde, die dem Einfluss der Psychiater nur teilweise zugänglich<br />

waren.<br />

In diesem Kapitel werden zwei Debatten analysiert, welche den forensisch-psychiatrischen Diskurs der<br />

Zwischenkriegszeit massgeblich prägten. Kapitel 9.1 untersucht die Diskussionen um eine institutionelle<br />

Ausdifferenzierung der forensischen <strong>Psychiatrie</strong> durch die Einrichtung spezialisierter forensisch-psychiatrischer<br />

(Verwahrungs-)Institutionen. Kapitel 9.2. beschäftigt sich mit der Problematik der forensischen Beurteilung<br />

ausgesprochener «Grenzfälle» <strong>und</strong> namentlich des «moralischen Schwachsinns». Bei beiden Debatten ging es<br />

letztlich um Folgeprobleme, die durch die Ausweitung der forensisch-psychiatrischen Praxis seit den<br />

1890er Jahren entstanden waren. Die <strong>Psychiatrie</strong> sah sich vor dem Ersten Weltkrieg zunehmend vor die<br />

1205 Bleuler, 1926, 18.<br />

1206 Zu Bleulers kriminalpolitischer Kehrtwende: Möller/Hell, 1997.<br />

1207 Vgl. Ramsauer, 2000, 276; Ritter, 2000; Wottreng, 1999; Klee, 1991.<br />

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