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Psychiatrie und Strafjustiz

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Lombrososchen Begriffs des reo nato». 454 Mit der Übernahme des von Kraepelin systematisierten Kon-<br />

zepts der «psychopathischen Persönlichkeit» markiert Bleulers Lehrbuch zugleich den Abschluss der hier<br />

skizzierten Aneignung kriminalitätsspezifischer Deutungsmuster durch die Schweizer <strong>Psychiatrie</strong>. Zu-<br />

sammen mit der skizzierten Institutionalisierung der <strong>Psychiatrie</strong> als medizinische Teildisziplin bildete die<br />

Aneignung neuer kriminalitätsspezifischer Deutungsmuster eine wichtige Gr<strong>und</strong>lage dafür, dass sich in der<br />

Schweiz ein forensisch-psychiatrisches Praxisfeld ausdifferenzieren <strong>und</strong> sich über die Beurteilung von<br />

Fällen offensichtlicher Geisteskrankheiten hinaus ausweiten konnte. Wie die im Zuge dieser Entwicklung<br />

entstandene Praxis konkret aussehen konnte, wird im 2.Teil dieser Arbeit am Beispiel des Kantons Bern<br />

ausführlich dargestellt.<br />

Die Bildung interdisziplinärer Netzwerke: Die Schweizerische Zeitschrift für Strafrecht<br />

Seit dem Ende der 1880er Jahre stiessen forensisch-psychiatrische Problemstellungen vermehrt auch aus-<br />

serhalb der psychiatrischen scientific community auf Interesse, wobei der anlaufenden Strafrechtsreform die<br />

Rolle eines wichtigen Katalysators zukam. Voraussetzung für diese wachsende Resonanz war eine inter-<br />

disziplinäre Vernetzung der Schweizer Psychiater, wie sie vor allem im Umfeld der 1888 gegründeten<br />

Schweizerischen Zeitschrift für Strafrecht zu Stande kam. 455 Anstösse dazu gingen allerdings weniger von den<br />

Psychiatern als von progressiven Strafrechtlern aus, die in den Irrenärzten wichtige Verbündete im Kampf<br />

für die Vereinheitlichung <strong>und</strong> die Reform des Strafrechts sahen. Strafrechtsreformer wie Stooss <strong>und</strong> Zür-<br />

cher, die als Richter selbst über Erfahrungen im Umgang mit psychiatrischen Sachverständigen verfügten,<br />

waren bereit, den Psychiatern in der Zeitschrift ein Forum zur Artikulation ihrer standespolitischen Interessen<br />

<strong>und</strong> kriminalpolitischen Vorstellungen zu bieten. Gleichzeitig erhofften sie sich von der Mitarbeit<br />

der Psychiater eine Sensibilisierung der Juristenschaft für eine teilweise Medikalisierung kriminellen Ver-<br />

haltens <strong>und</strong> damit die Einlösung des im Untertitel der Zeitschrift formulierten interdisziplinären An-<br />

spruchs. Im Herbst 1887 gelangte Stooss mit dem Anliegen an verschiedene Psychiater, sich mit Beiträgen<br />

an der geplanten Zeitschrift zu beteiligen. Was Stooss vorschwebte, war eine regelmässige Berichterstat-<br />

tung über forensisch-psychiatrische Fragen durch einen erfahrenen Forensiker. Nachdem der zunächst<br />

kontaktierte Georg Glaser das Angebot aus zeitlichen Gründen abgelehnt hatte, wandte sich Stooss mit<br />

der gleichen Bitte an die Anstaltsdirektoren von Zürich, Bern <strong>und</strong> Basel sowie den in Genf tätigen Paul-<br />

Louis Ladame. 456 In ihren Antworten bek<strong>und</strong>eten zwar alle angeschriebenen Psychiater ihr Interesse an<br />

der geplanten Zeitschrift, machten eine Mitarbeit jedoch von der zur Verfügung stehenden Zeit abhängig.<br />

Unter Verweis auf seine hohe berufliche Belastung <strong>und</strong> bereits abgelehnte Mitarbeiterschaften an auslän-<br />

dischen Zeitschriften antwortete beispielsweise Forel: «In diesem Fall fühle ich freilich eine Art moralische<br />

Verpflichtung Ihnen nicht Nein zu sagen, das es sich um die Schweiz <strong>und</strong> eine gute Sache handelt, welche<br />

allerdings die <strong>Psychiatrie</strong> tangiert.» 457 Ähnlich fiel die Antwort von Speyrs aus, der darauf hinwies, dass es<br />

ihm an den «dazu notwendigen Eigenschaften» fehle. Von Speyr schlug Stoss jedoch vor, gelegentlich<br />

Gutachten aus der Waldau in der Zeitschrift abzudrucken. 458<br />

Auch wenn sich keiner der von Stooss kontaktierten Psychiater zur regelmässigen Mitarbeit bereit erklärte,<br />

so zeigen die bis zum Ersten Weltkrieg in der Zeitschrift publizierten psychiatrischen Beiträge, dass das<br />

Angebot zur interdisziplinären Zusammenarbeit innerhalb der psychiatrischen scientific community dennoch<br />

454 Bleuler, 1916, 425.<br />

455 Auf die Beteiligung der Schweizer Psychiater an der ZStrR hingewiesen haben: Barras/Gasser, 2000, 17; Luminati, 1999, 51f.;<br />

Gschwend, 1996, 500f.; Schultz, 1988, 13, 17.<br />

456 SLA Ms Gq 70/2, Schreiben Georg Glasers an Carl Stooss, 21. November 1887; Schreiben Paul Dubois an Carl Stooss, 3.<br />

Dezember 1887.<br />

457 SLA Ms Gq 70/2, Schreiben Auguste Forels an Carl Stooss, 7. Dezember 1887.<br />

458 SLA Ms Gq 70/2, Schreiben Wilhelm von Speyrs an Carl Stooss, 25. Dezember 1887.<br />

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