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Psychiatrie und Strafjustiz

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4.3.1 Grenzziehungen zwischen <strong>Strafjustiz</strong> <strong>und</strong> <strong>Psychiatrie</strong>: Die Definition der Zurechnungs-<br />

fähigkeit<br />

Im bürgerlichen Schuldstrafrecht markiert das Kriterium der Zurechnungsfähigkeit die Grenze des juristi-<br />

schen Bezugssystems. Wie bereits in der Einleitung ausgeführt worden ist, wurde das Institut der Zurech-<br />

nungsfähigkeit im Laufe des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts zum Ort einer strukturellen Koppelung zwischen den Be-<br />

zugssystemen <strong>Strafjustiz</strong> <strong>und</strong> Medizin. Die forensisch-psychiatrische Begutachtungspraxis erhielt dadurch<br />

den Charakter einer regelhaft strukturierten Systembeziehung, über die Wissen von einem ins andere Be-<br />

zugssystem transformiert wird. In einer systemtheoretischen Perspektive müssen Auseinandersetzungen<br />

um die Definition der Zurechnungsfähigkeit als Kontroversen über die Bedingungen betrachtet werden,<br />

unter denen eine Koppelung der beiden Subsysteme erfolgen kann. Solche Koppelungsbedingungen re-<br />

geln zum einen den Stellenwert forensisch-psychiatrischer Gutachten im Strafverfahren, zum andern aber<br />

die Form, in welcher der mit einer medizinischen Begutachtung verb<strong>und</strong>ene intersystemische Wissens-<br />

transfer stattzufinden hat. In beiden Fällen handelt es sich um normativ fixierte Erwartungen, die das<br />

gegenseitige Verhalten von Juristen <strong>und</strong> Mediziner konditionieren.<br />

Wie in Kapitel 2 gezeigt worden ist, lassen sich in der Entwicklung des bürgerlichen Strafrechts seit der<br />

Aufklärung wiederholt Versuche feststellen, diese Koppelungsbedingungen zu normieren. So definierte<br />

das materielle Strafrecht im deutschsprachigen Raum seit der Mitte des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts die Zurechnungs-<br />

fähigkeit meist durch die psychologischen Kriterien der Strafeinsicht <strong>und</strong> der Willensfreiheit. Solche Defi-<br />

nitionen enthielten auch die meisten Strafgesetzbücher der Schweizer Kantone. Gleichzeitig reduzierte das<br />

bürgerliche Strafprozessrecht die Rolle der ärztlichen Sachverständigen auf weitgehend konsultative Funk-<br />

tionen <strong>und</strong> schrieb damit eine klare Trennung zwischen Tatsachenerhebung <strong>und</strong> Rechtsfolgefeststellung<br />

fest. 518 Gutachten über die Zurechnungsfähigkeit erlangten somit keine für das Gericht bindende Wir-<br />

kung. Aus der Kombination dieser beiden Koppelungsbedingungen kristallisierte sich im Laufe des 19.<br />

Jahrh<strong>und</strong>erts die verbreitete Praxis heraus, wonach die Justizbehörden den ärztlichen Sachverständigen<br />

Fragen nach dem Vorhandensein oder Fehlen der gesetzlichen Kriterien der Zurechnungsfähigkeit vorleg-<br />

ten, welche diese in ihren Gutachten zu beantworten hatten. 519 Diese Praxis stiess freilich bei vielen Ärz-<br />

ten auf Kritik. Bereits im Anschluss an die Aufklärungsbewegung hatten bekanntlich verschiedene Medi-<br />

ziner <strong>und</strong> Philosophen die Unhaltbarkeit der von der klassischen Strafrechtswissenschaft proklamierten<br />

Willensfreiheit herausgestrichen. Die ärztliche Kritik an der Willenssemantik des bürgerlichen Strafdiskur-<br />

ses gipfelte in der zweiten Hälfte des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts schliesslich in der von den Kriminalanthropologen<br />

<strong>und</strong> vielen Psychiatern geforderten Abschaffung des Schuldstrafrechts.<br />

Ausgehend von diesen Überlegungen, untersuchen die folgenden Abschnitte die rechtspolitischen Inter-<br />

ventionen der Schweizer Irrenärzte im Zusammenhang mit der Definition der Zurechnungsfähigkeit zwi-<br />

schen 1889 <strong>und</strong> 1918. Die wichtigsten Etappen dieser Debatte sind durch die rechtshistorischen Arbeiten<br />

von Michele Rusca <strong>und</strong> Lukas Gschwend sowie einen kürzeren Beitrag von Vincent Barras <strong>und</strong> Jacques<br />

Gasser zwar bereits bekannt. 520 Der besondere Fokus der vorliegenden Studie rechtfertigt es jedoch, die<br />

Thematik erneut aufzugreifen <strong>und</strong> einer differenzierten Analyse zu unterziehen. Im Zentrum steht dabei<br />

erstens die Frage, welche standespolitischen <strong>und</strong> praktischen Erwartungen <strong>und</strong> Interessen im Hinblick auf<br />

die strukturelle Koppelung von <strong>Strafjustiz</strong> <strong>und</strong> <strong>Psychiatrie</strong> die Schweizer Irrenärzte mit ihren Interventio-<br />

nen verbanden <strong>und</strong> wie diese im Kontext der psychiatrischen Kriminal- <strong>und</strong> Standespolitik zu verorten<br />

518 Vgl. Wynne, 1989, 23, 28, 31.<br />

519 Vgl. Kp. 7.2.<br />

520 Barras/Gasser, 2000; Gschwend, 1996, 440-474, 532-564; Rusca, 1981, 33-41, 108-115.<br />

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