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Psychiatrie und Strafjustiz

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anlässlich ihrer Enquete von 1938 schloss Bersot aus seiner erneuten Umfrage, dass die Schweizer Psychi-<br />

atrie, was die Verwahrung «krimineller Psychopathen» anbelangte, den Anforderungen des neuen Strafge-<br />

setzbuchs nur ungenügend gewappnet sei, <strong>und</strong> dass deshalb die Schaffung spezieller Einrichtungen uner-<br />

lässlich sei. 1498<br />

Die einzelnen Stellungnahmen der Umfrage legen allerdings eine differenzierte Betrachtung nahe. Offen-<br />

bar wurden die Auswirkungen des neuen Strafrechts auf die psychiatrische Infrastruktur in den einzelnen<br />

Kantonen unterschiedlich eingeschätzt. Wie die Stellungnahmen von Berner <strong>und</strong> Basler Psychiater zeigen,<br />

hing dies nicht zuletzt damit zusammen, wie die Kantone ihre Handlungsspielräume beim Vollzug des<br />

Strafgesetzbuchs ausnutzten. So meldete der Direktor der Anstalt Bellelay, Frédéric Humbert (1883–<br />

1950), bereits auf der Tagung des Nationalkomitees für geistige Hygiene Zweifel an der Darstellung Maiers an,<br />

wonach die Justizbehörden Unzurechnungsfähige <strong>und</strong> vermindert Zurechnungsfähige systematisch in<br />

psychiatrische Anstalten einweisen würden. In Bellelay habe man sich über solche Unannehmlichkeiten<br />

bisher nicht beklagen können. Im Gegenteil, es sei gelungen, Fälle, die keiner Behandlung mehr bedürften,<br />

an andere Anstalten abzugeben. Trotzdem glaubte auch Humbert, dass die neue Massnahmenpraxis län-<br />

gerfristig zu einer Überfüllung der psychiatrischen Anstalten führen müsse. 1499 Der Direktor der Waldau,<br />

Jakob Klaesi, wies in Bersots Umfrage darauf hin, dass im Kanton Bern «kriminelle Psychopathen» <strong>und</strong><br />

«moralisch Defekte» in St. Johannsen oder Witzwil untergebracht würden. Das Bedürfnis nach neuen<br />

institutionellen Lösungen sei deshalb nicht gross. 1500 Im Juni 1944 pries Wyrsch vor der Versammlung der<br />

Schweizerischen Gesellschaft für <strong>Psychiatrie</strong> das Berner Vollzugsmodell, da es eine flexible Einweisung der Be-<br />

troffenen in die vorhandenen Anstalten erlaube. Wyrsch lobte die gute Zusammenarbeit zwischen Psychi-<br />

atrie <strong>und</strong> Strafvollzug im Kanton Bern; dies habe zur Folge, dass den psychiatrischen Anstalten vorüber-<br />

gehend zugewiesene Sträflinge auch wieder abgenommen würden. Wyrsch zeigte sich überzeugt, dass der<br />

kantonalen Verordnung vom 12. Dezember 1941 ein Hauptverdienst bei der problemlosen Umsetzung<br />

des Gesetzes im Kanton Bern zukomme, «denn wenn Art. 14 in starrer Form angewandt werden müsste,<br />

so hätte dies jene schlimmen Folgen, über die man sich in andern Kantonen beklagt.» 1501 Eine vorsichtige<br />

Haltung bezüglich der Auswirkungen des Strafgesetzbuchs auf die psychiatrischen Anstalten vertrat 1945<br />

ebenfalls der Basler Psychiater Dukor. Er zog die von Kielholz im April 1943 vorgelegten Zahlen insofern<br />

in Zweifel, als diese nur die seit jeher hohe Belastung der Anstalt Königsfelden durch «verbrecherische<br />

Geisteskranke», nicht aber die unmittelbaren Auswirkungen des Strafgesetzbuchs belegen würden. In Basel<br />

stellte Dukor dagegen nur «äusserst geringfügige» Auswirkungen der neuen Rechtslage fest. Die Zahl<br />

der in Basel nach Artikel 14 <strong>und</strong> 15 eingewiesenen Personen würde lediglich ein Prozent aller Aufgenom-<br />

menen ausmachen. Falls die Friedmatt keine Ausnahme unter den Schweizer Anstalten sei, so würde dies<br />

wohl bedeuten, «dass die diesen Anstalten vom schweizerischen Strafgesetzbuch drohende Gefahren viel-<br />

leicht doch etwas überschätzt worden sind.» Dukor räumte allerdings ein, dass bereits einige wenige kri-<br />

minelle Anstaltspatienten die Atmosphäre einer ganzen Abteilung «vergiften» könnten. Deshalb sei es<br />

nach wie vor ein wichtiges Postulat zu verhindern, dass die psychiatrischen Anstalten gezwungen würden,<br />

geistesgestörte <strong>und</strong> das Anstaltsleben störende Geisteskranke aufzunehmen. 1502<br />

Die Schweizer Psychiater waren sich weitgehend einig, dass die Einführung des Strafgesetzbuchs die be-<br />

stehenden institutionellen Defizite im Bereich der Verwahrung <strong>und</strong> Versorgung «abnormer» StraftäterIn-<br />

1498 Bersot, 1943.<br />

1499 Humbert, 1943, 171.<br />

1500 Bersot, 1943, 187.<br />

1501 Wyrsch, 1945, 16.<br />

1502 Dukor, 1945a, 290f.<br />

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