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Psychiatrie und Strafjustiz

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eriefen sich in der Folge auf Metzgers Argumentation. Wahlweise führten sie zur Verteidigung ihrer An-<br />

sprüche den somatischen Charakter der Geistesstörungen oder die speziellen psychologischen Kenntnisse<br />

der Ärzteschaft an. 169 Auch der Psychologe Hoffbauer meinte in seiner 1808 erstmals erschienenen Psycho-<br />

logie in ihren Hauptanwendungen auf die Rechtspflege: «Hat der Arzt hinlängliche psychologische Kenntnisse, so<br />

ist von ihm in der Regel hier mehr zu erwarten, als vom Psychologen, der nicht Arzt ist.» 170 Der Mediziner<br />

Friedreich stellte 1835 schliesslich selbstbewusst fest, «dass den Ärzten einzig <strong>und</strong> allein das Recht zuste-<br />

he, in den vor Gerichten vorkommenden Fällen über zweifelhafte psychische Zustände zu entscheiden,<br />

weil von ihnen allein die zu diesem Geschäfte erforderlichen Kenntnisse <strong>und</strong> Erfahrungen zu erwarten<br />

sind». 171 Was Friedreich <strong>und</strong> seinen Medizinerkollegen vorschwebte, war nichts anderes als eine<br />

Monopolisierung der gerichtlichen Gutachtertätigkeit durch die Medizin.<br />

In den 1820er Jahren bezweifelten vor allem Juristen die ärztliche Kompetenz, zweifelhafte Geisteszu-<br />

stände vor Gericht zu beurteilen. 1828 hielt etwa der französische Rechtsanwalt Elias Regnault (1801–<br />

1868) den Pariser Irrenärzten vor, aufgr<strong>und</strong> ungesicherter Kenntnisse DelinquentInnen zu exkulpieren<br />

<strong>und</strong> der gerechten Strafe zu entziehen. Regnaults Streitschrift erregte auch in Deutschland weite Beachtung<br />

<strong>und</strong> wurde 1830 übersetzt. 172 Auch der in Berlin lehrende konservative Jurist Carl-Ernst Jarcke<br />

(1801–1852) warf 1829 den Ärzten vor, ihre Gemütszustandsgutachten auf ungesicherter Basis abzugeben<br />

<strong>und</strong> dabei von einer «falschen Humanität» auszugehen. Jarcke forderte einen ausdrücklichen Primat des<br />

Richters bei der Beurteilung der Zurechnungsfähigkeit. 173 In beiden Fällen reagierten die angegriffenen<br />

Ärzte mit Rechtfertigungsschriften, die ihre Sachkompetenz verteidigten. 174 Bei den Kompetenzstreitigkei-<br />

ten zwischen Juristen <strong>und</strong> Ärzten ging es letztlich um die Bedingungen, unter denen eine Koppelung der<br />

beiden Bezugssysteme erfolgen sollte. Eng mit der Kompetenzfrage verb<strong>und</strong>en war das Problem, inwie-<br />

weit medizinische Gutachten für die Justiz Verbindlichkeit erlangen sollten. 175 Bis um die Mitte des 19.<br />

Jahrh<strong>und</strong>erts kristallisierte sich zwischen diesen beiden Konfliktpunkten ein Kompromiss heraus, der die<br />

Gr<strong>und</strong>lagen für die weitere Zusammenarbeit von <strong>Strafjustiz</strong> <strong>und</strong> «Seelenheilk<strong>und</strong>e» legen sollte. Diese<br />

Koppelungsbedingungen sollten erst im letzten Drittel des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts wieder ernstlich in Frage ge-<br />

stellt werden. Die nach 1800 von den deutschen Territorialstaaten erlassenen Strafprozessordnungen, allen<br />

voran die preussische Criminalordnung von 1805, verpflichteten die Richter in der Regel, dem Gemütszu-<br />

stand des Angeschuldigten besondere Beachtung zu schenken <strong>und</strong> gegebenenfalls einen Arzt zu konsultieren.<br />

176 Im Gegenzug verblieben die Entscheidungskompetenzen über die ärztlichen Gutachten bei den<br />

Justizbehörden. Trotz entsprechender Versuche der Ärzte erlangten Gutachten über den Geisteszustand<br />

eines Angeschuldigten somit keine gesetzlich verankerte Bindungswirkung. Entscheidend blieb somit, ob<br />

die ärztlichen Sachverständigen die Richter <strong>und</strong> allenfalls die Geschworenen von der Plausibilität ihrer<br />

Schlussfolgerungen zu überzeugen vermochten. 177 Die Ärzte erreichten bei diesem Kompromiss zwar eine<br />

Anerkennung der Kompetenz, zweifelhafte Geisteszustände vor Gericht zu begutachten. Was die Anord-<br />

nung <strong>und</strong> Würdigung dieser Gutachten anbelangte, blieben sie dagegen nach wie vor von einer Sensibili-<br />

sierung der Justizbehörden gegenüber zweifelhaften Geisteszuständen abhängig.<br />

169 Vgl. Greve, 1999, 81f.; Kaufmann, 1995, 315f.; Fischer-Homberger, 1983, 165f.<br />

170 Hoffbauer, 1823, 7.<br />

171 Friedreich, 1835, 216.<br />

172 Goldstein, 1987, 185; Castel, 1983, 188. Zur Rezeption Regnaults in Deutschland: Friedreich, 1835, 203-212.<br />

173 Meichtry, 1994, 105f.<br />

174 So etwa der Pariser Psychiater François Leuret 1829 in den Annales d'hygiène publique et de la médecine légale oder Friedrich Groos<br />

in der 1830 erschienenen Schrift Der Skeptizismus in der Freiheitslehre in Beziehung zur strafrechtlichen Zurechnung; vgl. Goldstein, 1987,<br />

185-187; Meichtry, 1994, 105-109.<br />

175 Vgl. Greve, 1999, 83-85, 89-92; Kaufmann, 1995, 306f.<br />

176 Artikel 280 der preussischen Criminalordnung vom 11. Dezember 1805, zitiert: Kaufmann, 1995, 316; Greve, 1999, 89f.<br />

177 Greve, 1999, 90-92.<br />

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