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Psychiatrie und Strafjustiz

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«In der Tat <strong>und</strong> Wahrheit ist sowohl das Sühnerecht mit dem Determinismus wie das ärztliche Zweck-<br />

recht mit dem Glauben an die Willensfreiheit durchaus vereinbar.» 1492 Gesellschaftliche Rache- <strong>und</strong> Süh-<br />

nebedürfnisse würden vielmehr einem genuin physiologischen Trieb entsprechen, so dass ein auf diesen<br />

Gr<strong>und</strong>prinzipien aufbauendes Strafrecht zur «naturentsprungenen, elementaren Eigenart der menschli-<br />

chen Seele» gehöre. Ein reines Zweckstrafrecht, das solche Vergeltungsbedürfnisse unberücksichtigt liesse,<br />

müsse deshalb zu einem «lebensunfähigen, rationalistischen Monstrum» verkommen. Aufgr<strong>und</strong> seiner<br />

biologistischen Interpretation des traditionellen Schuldstrafrechts postulierte Bleuler schliesslich grosszü-<br />

gig die «gr<strong>und</strong>sätzliche Übereinstimmung zwischen medizinischer <strong>und</strong> allgemeiner Rechtsauffassung». 1493<br />

Mit der expliziten Distanzierung vom früheren Radikalismus eines Auguste Forels oder eines Eugen Bleulers<br />

brachten die Voten von Binder <strong>und</strong> Manfred Bleuler eine kriminalpolitische Kehrtwende innerhalb<br />

der Schweizer <strong>Psychiatrie</strong> zum Abschluss. Diese hatte sich freilich bereits im Zusammenhang mit dem<br />

Kompromiss in der Zurechnungsfähigkeitsdebatte von 1912 abgezeichnet <strong>und</strong> mündete in den 1940er<br />

Jahren schliesslich in ein Bekenntnis zum traditionellen Schuldstrafrecht. Die Schweizer Psychiater näher-<br />

ten sich damit weitgehend dem politischen Konsens an, der sich im Rahmen der Strafrechtsdebatte der<br />

1930er Jahre auf breiter Basis herauskristallisiert hatte <strong>und</strong> der lediglich fallweise ein Abkehren vom straf-<br />

rechtlichen Schuldprinzip zuliess. Nicht zuletzt im Zeichen der nationalen Integrationsideologie der «Geis-<br />

tigen Landesverteidigung» wurde damit von psychiatrischer Seite der «Schulenstreit» des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts<br />

definitiv für geschlossen erklärt.<br />

Unterschiedliche Problemwahrnehmungen<br />

Eine Expansion der forensisch-psychiatrischen Begutachtungs- <strong>und</strong> Massnahmenpraxis war die haupt-<br />

sächlichste Auswirkung des neuen Strafrechts auf die <strong>Psychiatrie</strong>. Bereits im November 1942 liefen bei der<br />

Anstaltskommission der Schweizerischen Gesellschaft für <strong>Psychiatrie</strong> erste Klagen über steigende Einweisungen<br />

von «verbrecherischen Psychopathen» in psychiatrische Anstalten ein. Auf der Tagung des Nationalkomitees<br />

für geistige Hygiene machte im April 1943 der Direktor der Anstalt Königsfelden, Arthur Kielholz, eindring-<br />

lich auf die starke Belastung seiner Anstalt durch kriminelle InsassInnen aufmerksam <strong>und</strong> forderte ent-<br />

sprechende Entlastungen: «Wir haben also allen Gr<strong>und</strong>, uns gegen die Zuweisung weiterer Krimineller, die<br />

wir nicht als geisteskrank taxieren, energisch zur Wehr zu setzen <strong>und</strong> auch zu verlangen, dass man uns<br />

solche Kriminelle, deren psychischer Zustand sich gebessert hat, dass sie nicht mehr als psychotisch ange-<br />

sehen werden müssen <strong>und</strong> sich wieder als straferstehungsfähig erweisen, wieder abnimmt.» 1494<br />

Wie Kielholz orteten auch andere Psychiater die Probleme vor allem beim Umgang mit jenen «Grenzfäl-<br />

len», die, meist als vermindert zurechnungsfähig begutachtet, zur Verwahrung in die psychiatrischen An-<br />

stalten eingewiesen wurden. Der Dirktor des Burghölzli sah die Wurzel des Übels in der «unglücklichen<br />

Fassung» von Artikel 14 des neuen Strafgesetzbuchs. Die Psychiater, so Maier, seien seinerzeit davon aus-<br />

gegangen, dass eine Verwahrung aufgr<strong>und</strong> dieser Bestimmung je nach ärztlichem Bef<strong>und</strong> in einer psychi-<br />

atrischen Anstalt oder aber in einer Verwahrungsanstalt erfolgen könne. Werde nun von juristischer Seite<br />

aber der Standpunkt vertreten, dass Artikel 14 zwingend eine Unterbringung in einer ärztlich geleiteten<br />

Anstalt erfordere, so sei dies für die psychiatrischen Institutionen problematisch: «Dass man uns [...] zwin-<br />

gen will, kriminelle Psychopathen oder auch leichte Psychosen mit hoher Gemeingefährlichkeit, die kei-<br />

neswegs der Heil- <strong>und</strong> Pflegeanstalt bedürfen <strong>und</strong> viel sicherer <strong>und</strong> besser in einer Verwahrungsanstalt<br />

1492 Bleuler, 1944, 4.<br />

1493 Bleuler, 1944, 6f.<br />

1494 Kielholz, 1943, 178.<br />

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