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Psychiatrie und Strafjustiz

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Männer obsolet machte. 147 Die grosse Zahl gerichtsärztlicher Fallsammlungen aus dem 18. Jahrh<strong>und</strong>ert<br />

bezeugt schliesslich ein wachsendes Interesse der gelehrten Öffentlichkeit an Zusammenhängen zwischen<br />

Verbrechen <strong>und</strong> Geistesstörungen sowie an Fragen der strafrechtlichen Verantwortlichkeit. 148 Diese Sen-<br />

sibilisierung schlug sich ebenfalls in der Justizpraxis nieder. So liess die Genfer Obrigkeit bereits im 18.<br />

Jahrh<strong>und</strong>ert regelmässig DelinquentInnen ärztlich untersuchen <strong>und</strong> billigte geistesgestörten StraftäterIn-<br />

nen Straffreiheit oder Strafmilderung zu. 149 In ähnlicher Weise verschonte der Rat von Zürich 1782 Jakob<br />

Schellenberg, der seinen Sohn mit einer Axt erschlagen hatte, vor der Todesstrafe, weil «dieser Unglückli-<br />

che seine Gräueltat in einer unzweifelhaften, ungeheuchelten wahren Melancholie» begangen habe. Schel-<br />

lenberg wurde stattdessen im Spital auf unbestimmte Zeit verwahrt. 150<br />

Eine entscheidende Neudefinition der strafrechtlichen Verantwortlichkeitslehre erfolgte im Anschluss an<br />

die naturrechtliche Imputationslehre Samuel Pufendorfs (1632-1694). Als Bedingung des sittlichen Han-<br />

delns erschienen nun Intellekt <strong>und</strong> freier Wille. 151 Zusätzlich zum traditionellen Kriterium des intakten<br />

Verstands rückte nun das abstrakte Prinzip der Willensfreiheit in den Vordergr<strong>und</strong>. Die sich hier abzeich-<br />

nende Willenssemantik sollte den strafrechtlichen Verantwortlichkeitsdiskurs bis weit ins 20. Jahrh<strong>und</strong>ert<br />

hinein prägen. Wie noch zu zeigen sein wird, bot die Willenssemantik des bürgerlichen Strafdiskurses<br />

zugleich Ansatzpunkte für eine Infragestellung der Gr<strong>und</strong>lagen des Schuldstrafrechts. Die Strafrechtskodi-<br />

fikationen des 18. Jahrh<strong>und</strong>erts machten erstmals den Besitz der Willensfreiheit zur Voraussetzung einer<br />

strafbaren Handlung. So lautete der entsprechende Artikel des Preussischen Landrechts von 1794: «Wer<br />

frey zu handeln unvermögend ist, bey dem findet kein Verbrechen, also auch keine Strafe statt.» 152 Ähnlich<br />

hiess es im Vorentwurf zu einem Zürcher Strafgesetzbuch von 1806: «Alles, was das Vermögen eines<br />

Menschen, mit Freyheit <strong>und</strong> Überlegung zu handeln, mehrt oder mindert, das mehrt oder mindert auch<br />

den Grad der Strafbarkeit.» 153 Zur Aufgabe des Richters gehörte demnach nicht allein die rechtliche Wür-<br />

digung der Tat, sondern ebenfalls die Klärung der Frage, ob StraftäterInnen die eingeklagten Handlungen<br />

aus freien Motiven begangen hatten <strong>und</strong> für deren Folgen zur Rechenschaft gezogen werden konnten.<br />

Dementsprechend nahmen die Wissensbedürfnisse der Justizbehörden über die subjektiven Beweggründe<br />

<strong>und</strong> über Geisteszustände zu, die eine freie Willensbetätigung ausschlossen. Paradoxerweise lief dieses<br />

Interesse an der Individualität einzelner StraftäterInnen dem beschriebenen Trend zu einem rein tatfixier-<br />

ten Strafrecht entgegen. Solche Widersprüche umging die bürgerliche Justiz, indem sie eine Verminderung<br />

der strafrechtlichen Verantwortlichkeit lediglich in Ausnahmefällen ins Auge fasste. Das stillschweigende<br />

Voraussetzen der Schuldfähigkeit im «Normalfall» war somit eine wesentliche Bedingung für die Funkti-<br />

onsfähigkeit des bürgerlichen Schuldstrafrechts. 154 Die Begründung der Strafbarkeit einer Handlung aus<br />

der naturgegebenen Freiheit war zudem eng mit der politischen Konstituierung des männlichen Indivi-<br />

duums als Staatsbürger verb<strong>und</strong>en. Seit der Säkularisierung des Strafrechts galten – zumindest männliche<br />

– Straftäter nicht mehr als sündige Untertanen, die gegen die obrigkeitliche <strong>und</strong> letztlich göttliche Ord-<br />

nung verstiessen, sondern als Staatsbürger, die aus freien Stücken den (fiktiven) Gesellschaftsvertrag bra-<br />

chen. 155 So machte für den liberalen Mediziner Johann Baptist Friedreich (1796–1862) das Vorhandensein<br />

147 Fischer-Homberger, 1983, 136-148.<br />

148 Lorenz, 1999, 255-263.<br />

149 Porret, 1995, 129-135; Barras, 1990.<br />

150 Günter, 1987, 77-81.<br />

151 Lubbers, 1938, 32-40. Zur Neudefinition der Zurechnungsfähigkeit: Greve, 2000, 76-81; Kaufmann, 1995, 311-316; Reuchlein,<br />

1985, 11-13; Güse/Schmacke, 1976 II, 188-190.<br />

152 Zwanzigster Titel, Artikel 16 des Allgemeinen Preussischen Landrechts, zitiert: Buschmann, 1998, 275.<br />

153 Entwurf eines Strafgesetzbuchs für den Kanton Zürich von 1806, Artikel 13, zitiert: Günter, 1987, 58; Gschwend, 1996, 377f.,<br />

betont die enge Anlehnung dieser Formulierung an das preussische Vorbild.<br />

154 Vgl. Güse/Schmacke, 1976 II, 199f.<br />

155 Zum Zusammenhang von Strafrecht <strong>und</strong> Vertragstheorie in der Naturrechtslehre: Ludi, 1999, 46-50.<br />

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