13.09.2013 Aufrufe

Psychiatrie und Strafjustiz

Psychiatrie und Strafjustiz

Psychiatrie und Strafjustiz

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Erfolgreiche ePaper selbst erstellen

Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.

Kurz nach Bleulers Vortrag von 1926 griff der Psychiater Alex von Muralt (1888–1959) die Debatte noch-<br />

mals auf. Im Zentrum seiner Kritik stand vor allem Bleulers Kehrwende. Von Muralt vertrat den Stand-<br />

punkt, dass wissenschaftliche Erkenntnis nur «auf Gr<strong>und</strong> neuerer, vertiefter Einsicht» <strong>und</strong> nicht allein «auf<br />

Gr<strong>und</strong> rein praktischer Erwägungen» preisgegeben werden dürfe. Was der Richter vom psychiatrischen<br />

Sachverständigen erwarte, sei «ein streng wissenschaftliches Urteil». Der «wissenschaftliche Entscheid über<br />

die Zurechnungsfähigkeit» dürfe auf keinen Fall von solchen praktischen Überlegungen abhängig gemacht<br />

werden. Sei dies hingegen der Fall, so würde die <strong>Psychiatrie</strong> ihr Existenzrecht als Wissenschaft aufgeben.<br />

In Fällen, «wo die Schuldfähigkeit aus pathologischen Gründen völlig fehlt – wie beim moralischen<br />

Idioten», dürfe auf keinen Fall auf Zurechnungsfähigkeit <strong>und</strong> damit auf Strafe erkannt werden. Von<br />

Muralt verkannte die Schwierigkeiten nicht, die der Vollzug sichernder Massnahmen an «moralisch<br />

Schwachsinnigen» bieten würde; nur hätten in diesem Fall die Psychiater die Bereitstellung besonderer<br />

Anstalten zu fordern <strong>und</strong> nicht einfach ihre Begutachtungspraxis anzupassen. 1322 Von Muralts Argu-<br />

mentation zielte letztlich auf eine schärfere Abgrenzung der Kompetenzen von <strong>Psychiatrie</strong> <strong>und</strong> Justiz, als<br />

dies Gehry <strong>und</strong> Bleuler propagierten. Er forderte eine Beschränkung der Sachverständigentätigkeit auf<br />

rein medizinische Belange <strong>und</strong> wollte die Transformation medizinischer in juristische Aussagen ganz der<br />

Justiz überlassen. Allein auf diese Weise liesse sich seiner Meinung nach die Wissenschaftlichkeit der Psy-<br />

chiatrie behaupten. Von Muralt vertrat somit einen alternativen standespolitischen Standpunkt, der wis-<br />

senschaftliche Urteile von praktischen Überlegungen streng getrennt wissen wollte. Seiner Meinung nach<br />

war es nicht zulässig, die auf politischer Ebene offene Verwahrungsfrage über die Begutachtungspraxis zu<br />

lösen.<br />

Wissenschaft oder Politik?: Die Edlin-Maier-Kontroverse<br />

Im November 1925 attackierte der Zürcher Rechtsanwalt Edlin den damaligen Oberarzt des Burghölzli,<br />

Hans W. Maier, in einem Referat vor dem Zürcher Juristenverein mit heftiger Kritik. Anlass dazu gab ein<br />

Obergutachten Maiers, in dem sich dieser gegen ein Erstgutachten Charlot Strassers (1884–1950) ausge-<br />

sprochen hatte. Der frei praktizierende Strasser hatte bei einem angeklagten Sittlichkeitsdelinquenten den<br />

Beginn einer Schizophrenie diagnostiziert <strong>und</strong> auf vollständige Unzurechnungsfähigkeit erkannt. Maier<br />

dagegen sah keine Zeichen einer schleichenden Psychose <strong>und</strong> bezeichnete den Exploranden als «Psycho-<br />

pathen» <strong>und</strong> damit für voll zurechnungsfähig. 1323 In seinem Gutachten vermerkte Maier, dass «zur An-<br />

nahme einer Unzurechnungsfähigkeit die sichere Konstatierung einer klinisch fassbaren Geisteskrankheit<br />

oder eines vorübergehenden geistesgestörten Zustands» nötig sei. 1324 Zudem warnte er davor, lediglich für<br />

«abnorm» bef<strong>und</strong>ene «Charaktere» als geisteskrank zu bezeichnen. Dies würde dazu führen, «den grösse-<br />

ren Teil der Rechtsbrecher für unzurechnungsfähig erklären zu müssen». 1325 Unklar blieb, ob sich diese<br />

Aussage allein auf den vorliegenden Fall bezog oder gr<strong>und</strong>sätzlicher Natur sein sollte. Edlin hielt Maier<br />

auf jeden Fall die provokative These entgegen, dass in Zweifelsfällen künftig nicht das Moment der Unzu-<br />

rechnungsfähigkeit, sondern die Zurechnungsfähigkeit vor Gericht bewiesen werden müsse <strong>und</strong> berief<br />

sich dabei auf das Prinzip in dubio pro reo. 1326 Edlin war sich bewusst, dass diese, gemessen am Stand der<br />

Lehrmeinung, unorthodoxe Interpretation zu einer deutlichen Zunahme der für unzurechnungsfähig er-<br />

klärten «Grenzfälle» führen musste. Ebenfalls kritisierte Edlin die Gewohnheit der psychiatrischen Sach-<br />

verständigen, sich direkt über die Frage der Zurechnungsfähigkeit zu äussern. Denn dadurch fühlten sich<br />

1322 Muralt, 1927.<br />

1323 Maier, 1927, 318f.; Strasser, 1927, 84f.<br />

1324 Edlin, 1927, 303.<br />

1325 Edlin, 1927, 313.<br />

1326 Edlin, 1927, 305.<br />

326

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!