13.09.2013 Aufrufe

Psychiatrie und Strafjustiz

Psychiatrie und Strafjustiz

Psychiatrie und Strafjustiz

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Erfolgreiche ePaper selbst erstellen

Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.

den von vielen Kriminologen <strong>und</strong> Psychiatern bekanntlich als Zeichen der «Entartung» interpretiert. Im<br />

Anschluss an die Theorien der Kriminalanthropologen <strong>und</strong> die Degenerationstheorie glaubte man, auf-<br />

gr<strong>und</strong> von äusseren Körpermerkmalen auf das «abnorme Wesen» einer Person schliessen zu können. 839<br />

Bereits in den 1890er Jahren meldeten sich jedoch auch Zweifel an der Zuverlässigkeit <strong>und</strong> der prakti-<br />

schen Brauchbarkeit einer solchen Semiotik des Körpers. Führende deutschsprachige Psychiater relativier-<br />

ten denn auch bereits in den 1880er Jahren die Bedeutung solcher stigmata degenerationis beim Diagnostizie-<br />

ren einer «Entartung» <strong>und</strong> eines «verbrecherischen Charakters». 840<br />

Wie das Gutachten über Johann G. zeigt, registrierten auch die Berner Psychiater um die Jahrh<strong>und</strong>ert-<br />

wende regelmässig Körpermerkmale wie angewachsene Ohrläppchen, «abnorme» Schädelformen, unre-<br />

gelmässige Gesichtszüge <strong>und</strong> übergrosse männliche Geschlechtsteile. So hiess es etwa in einem Gutachten<br />

der Waldau aus dem Jahre 1893: «Von Interesse sind dagegen gewisse so genannte Degenerationszeichen:<br />

Die Ohrläppchen sind angewachsen, am oberen Rande der Ohrmuschel sitzt jeweils ein Knötchen; die<br />

Warzenfortsätze des Schädels sind ungemein stark entwickelt.» 841 In einem Fall aus dem Jahre 1897 ver-<br />

massen die Sachverständigen der Waldau sogar den Schädel eines Exploranden. 842 Aufgr<strong>und</strong> der untersuchten<br />

Gutachten scheint es, dass Hinweise auf «Degenerationszeichen» in den Gutachten aber nach<br />

1910 vergleichsweise selten auftauchen. Dass die Berner Psychiater der Bedeutung solcher Körperzeichen<br />

zunehmend skeptischer gegenüber standen, belegt auch das erwähnte Fallbeispiel aus dem Jahre 1918, bei<br />

dem die psychiatrischen Sachverständigen gegenüber dem Gericht die forensische Relevanz von «Degene-<br />

rationszeichen» wie angewachsenen Ohrläppchen relativierten. 843 Die Bedeutung von «Degenerationszei-<br />

chen» für die forensisch-psychiatrische Praxis wird zusätzlich durch den Umstand relativiert, dass die Ber-<br />

ner Psychiater in keinem der untersuchten Fälle Hinweise auf «Degenerationszeichen» in ihren Schlussfol-<br />

gerungen systematisch verwerteten. Dies gilt ebenfalls für die erwähnten Fälle aus den Jahren 1893 <strong>und</strong><br />

1897 sowie für den Fall von Johann G. Wie im Zusammenhang mit dem Deutungsmuster der «psychopa-<br />

thischen Persönlichkeit» gezeigt worden ist, spielten Momente wie eine «erbliche Belastung» oder die Le-<br />

bensgeschichte beim Diagnostizieren einer «Entartung» eine deutlich grössere Rolle als einzelne Körper-<br />

merkmale. Körperliche Bef<strong>und</strong>e <strong>und</strong> Hinweise auf «Degenerationszeichen» blieben für die Berner Psy-<br />

chiater denn auch lediglich eine Informationsquelle unter anderen. 844<br />

Erk<strong>und</strong>igungen: Aussagen <strong>und</strong> Mitteilungen<br />

Die Psychiater nutzten ebenfalls Anstaltsbesuche von Verwandten zur Informationsbeschaffung. In vielen<br />

Fällen befragten sie Ehefrauen, Ehemänner <strong>und</strong> Geschwister, die ihre Angehörigen während der Begut-<br />

achtung besuchten, über die familiäre Herkunft <strong>und</strong> das Vorleben der ExplorandInnen sowie über das<br />

Ehe- <strong>und</strong> Familienleben. Häufig zogen die Psychiater auch direkt am Wohnort der ExplorandInnen Er-<br />

k<strong>und</strong>igungen ein. Im Fall von Johann G. begab sich einer der beiden Sachverständigen an den Wohnort<br />

der Familie. Er untersuchte mehrere Familienmitglieder auf ihren körperlichen <strong>und</strong> geistigen Zustand <strong>und</strong><br />

839 Vgl. die Aufzählung bei Delbrück, 1897, 55. Zur Rezeption von Lombrosos Theorie der Degenerationszeichen im deutschsprachigen<br />

Raum: Wetzell, 2000, 49-53; Regener, 1999, 193-239; Gadebusch Bondio, 1995, 125f., 191. Zur Rezeption der Kriminalanthropologie<br />

siehe ebenfalls Kp. 3.1.<br />

840 Z. B. Kraepelin, 1887, 525; Bleuler, 1896; Aschaffenburg, 1903, 144-153; Kraepelin, 1904, 818.<br />

841 Speyr/Brauchli, 1895, 56. Schädel- <strong>und</strong> Körpermessungen wurden vor der Jahrh<strong>und</strong>ertwende auch von Zürcher Psychiatern<br />

praktiziert (Kölle, 1896, 39-48). Zur polizeilichen Anthropometrie in der Schweiz: Stalder, 1998.<br />

842 StAB BB 15.4, Band 1637, Dossier 8808, Gutachten über Rudolf K., 23. Juli 1897.<br />

843 StAB BB 15.4, Band 2095, Dossier 1858, Psychiatrisches Gutachten über Johannes L., 14. November 1918; vgl. Kp. 7.1.<br />

844 Schulte, 1989, 91-95, stellt im Zusammenhang mit der körperlichen Untersuchung des Brandstifters Josef Riessel eine Reduktion<br />

des Exploranden durch die Psychiater auf sein «körperliches Substrat», seine «neurologische Physiognomie» fest. Dem ist im<br />

Hinblick auf die hier untersuchten Quellen entgegenzuhalten, dass das Erheben <strong>und</strong> Auswerten von körperlichen Bef<strong>und</strong>en<br />

lediglich einen Bestandteil der psychiatrischen Informationsbeschaffung- <strong>und</strong> -verwertung ausmachte. Es ist zudem zu unterscheiden<br />

zwischen dem Erheben <strong>und</strong> Verwerten solcher Informationen innerhalb der Gutachtenstruktur.<br />

191

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!