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Psychiatrie und Strafjustiz

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solche sozial ziemlich ungefährliche, arbeitsfähige Menschen aus ihrem Beruf, ihrer Ehe, aus allen ihren<br />

Unternehmungen <strong>und</strong> Lebensbeziehungen herausreisst <strong>und</strong> sie in die Irrenanstalt versetzt, so wird damit<br />

nicht nur ihr äusseres Fortkommen, sondern noch viel tiefergehender auch ihr inneres Selbstbewusstsein<br />

geschädigt, was auf die Psychotherapie, die ja fast immer auf die Überwindung irgendwelcher Minderwer-<br />

tigkeitsgefühle gerichtet sein muss, katastrophal ungünstig zu wirken pflegt.» 1537 Im Vergleich zur Gruppe<br />

der «Psychopathen» stand für die Psychiater im Fall der «Neurotiker» eindeutig die sozial integrierende<br />

Funktion der <strong>Psychiatrie</strong> im Vordergr<strong>und</strong>. Das Zitat Hans Binders macht zudem deutlich, dass sich eine<br />

ambulante Therapie vor allem an StraftäterInnen richtete, deren Lebensstil gr<strong>und</strong>sätzlich den bürgerlichen<br />

Respektabilitätsvorstellungen entsprach. In der Praxis beabsichtigten die Psychiater allerdings nicht nur,<br />

«Neurotikern» eine Psychotherapie zu ermöglichen, sondern wollten sie dazu sogar verpflichten können.<br />

Denn in ihren Augen ging es nicht an, eine psychotherapeutische Massnahme allein der Einsicht, das<br />

heisst der Freiwilligkeit von DelinquentInnen zu überlassen. Deshalb traten sie auch für eine anstelle der<br />

Strafe anzuordnende ambulante Zwangsmassnahme ein. 1538<br />

1951 erklärte das B<strong>und</strong>esgericht die Anordnung ambulanter Massnahmen aufgr<strong>und</strong> von Artikel 15 des<br />

Strafgesetzbuchs für unzulässig. Solche Massnahmen würden dem Wortlaut des Gesetzes widersprechen<br />

<strong>und</strong> den «Sühnezweck der Strafe» nicht erfüllen. Das B<strong>und</strong>esgericht befand, dass sich DelinquentInnen<br />

während der ganzen Massnahmendauer in einer geschlossenen Anstalt aufzuhalten hätten. 1539 Diese Absa-<br />

ge an die bisherige Praxis, die das Schuldprinzip des Strafrechts klar in den Vordergr<strong>und</strong> stellte, stiess bei<br />

Psychiatern <strong>und</strong> Juristen einhellig auf Protest. Binder schrieb in der Schweizerischen Juristenzeitung etwa:<br />

«Vom ärztlichen Standpunkt aus wird man es lebhaft bedauern, dass nun eine ganze Reihe von Rechtsbre-<br />

chern, insbesondere von Sexualdelinquenten, einfach ins Gefängnis wandern <strong>und</strong> nachher doch zu beina-<br />

he drei Vierteln rückfällig werden, während eine ärztliche Psychotherapie weit bessere Erfolge aufzuwei-<br />

sen hätte, da dann nur etwa ein Fünftel rückfällig wird.» 1540 Angesichts der dominierenden Tendenz zu<br />

einer Demedikalisierung des Massnahmenrechts erwies sich der Entscheid des B<strong>und</strong>esgerichts als ebenso<br />

folgenrichtig wie paradox. Ausgerechnet in jenem Bereich, in dem sich die Psychiater (<strong>und</strong> Juristen) von<br />

sich aus für eine Medikalisierung einer (kleinen) Gruppe von Straftätern engagierten, verhinderte das<br />

oberste Gericht eine solche. Der höchstrichterliche Entscheid blieb allerdings weiterhin umstritten. So<br />

hielten verschiedene Kantone an ihrer bisherigen Praxis fest <strong>und</strong> ordneten weiterhin ambulante Mass-<br />

nahmen an. 1541 Erst bei der Revision des Allgemeinen Teils des Strafgesetzbuchs zu Beginn der 1970er<br />

Jahre wurde die ambulante Behandlung dann jedoch explizit in den Massnahmenkatalog aufgenom-<br />

men. 1542<br />

Fazit: Demedikalisierungstendenzen nach der Einführung des Strafgesetzbuchs<br />

Im Rückblick erweist sich die Begeisterung, mit der die Schweizer Psychiater das neue Strafgesetzbuch als<br />

Zeichen des kriminalpolitischen Fortschritts <strong>und</strong> der nationalen Integration begrüssten, als zwiespältig.<br />

Denn bald nach der Einführung des neuen Gesetzes sah sich die psychiatrische scientific community mit<br />

Schwierigkeiten in einem bisher unbekannten Masse konfrontiert. Nebst der Zunahme der Zahl der Gut-<br />

achten machten den psychiatrischen Anstalten vor allem die grosse Zahl der zu verwahrenden Straftäte-<br />

rInnen zu schaffen. Paradoxerweise hatte sich die <strong>Psychiatrie</strong> nun an den institutionellen Auswirkungen<br />

1537 Binder, 1952a, 182.<br />

1538 Binder, 1952a, 185, 188.<br />

1539 BGE 77 IV, 129-136.<br />

1540 Binder, 1952a, 188.<br />

1541 Binder, 1959, 67.<br />

1542 BBl, 1965, 576.<br />

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