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Psychiatrie und Strafjustiz

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fung durch die Sachverständigen ist darauf hingewiesen worden, dass die Produktion eine psychiatrischen<br />

Wissens über kriminell gewordene Menschen eng an verschiedene Formen von Alltagswissen anschloss.<br />

Auch im Fall von Ernst S. haben sich Übereinstimmungen zwischen dessen eigener Interpretation seines<br />

Lebenslaufs <strong>und</strong> derjenige der Psychiater feststellen lassen. Eine differenzierte Betrachtung des Verhältnis-<br />

ses von Alltags- <strong>und</strong> Expertenwissen im Bereich der forensischen <strong>Psychiatrie</strong> zeigt denn auch, dass sich<br />

lebensweltliche <strong>und</strong> psychiatrische Deutungen normabweichenden <strong>und</strong> Verhaltens in gewissen Punkten<br />

durchaus überlappen konnten. Die Perspektiven der Psychiater <strong>und</strong> der lebensweltlichen Umwelt konver-<br />

gierten nicht selten darin, dass sie bestimmte Personen als ausserhalb der gesellschaftlichen Normen stehend<br />

<strong>und</strong> als Quelle einer Bedrohung betrachteten. 1202 Was psychiatrische Deutungsmuster dagegen oft<br />

von Alltagsbeobachtungen unterschied, war die Stringenz der Deutung der Ursachen <strong>und</strong> Umstände, die<br />

mit einer solchen «Gefahr» im Zusammenhang standen. Die folgende Analyse verfolgt nicht den Zweck,<br />

den Eigensinn einer vergangenen Lebenswelt zu rekonstruieren, vielmehr soll anhand der spärlichen Hin-<br />

weise in den Quellen versucht werden, die psychiatrische Beurteilung der «Gemeingefährlichkeit» mit<br />

lebensweltlichen Beobachtungen derselben DelinquentInnen zu kontrastieren. Dabei geht es nicht darum,<br />

hinter den psychiatrischen Deutungsmustern eine authentische «Erfahrung» freizulegen, sondern darum<br />

die Standortgeb<strong>und</strong>enheit der jeweils diskursiv artikulierten Beobachtungen deutlich zu machen.<br />

Zur Zeit seiner Begutachtung war Fritz W. 53 Jahre alt <strong>und</strong> arbeitete seit dem Tod seiner Frau in Kirch-<br />

berg als selbständiger Messerschmied. Auf sein eigenes Begehren hin war er 1890 bevorm<strong>und</strong>et worden.<br />

Um die gesellschaftliche Stellung von Fritz W. an seinem Wohnort in Erfahrung zu bringen, reiste einer<br />

der beiden Sachverständigen nach Kirchberg <strong>und</strong> befragte verschiedene Personen aus seiner Umgebung.<br />

Der Psychiater sprach unter anderen mit dem Briefträger, dem Vorm<strong>und</strong> von Fritz W., dem Gemeinde-<br />

präsidenten sowie verschiedenen Nachbarn. Die Aussagen der Auskunftspersonen fielen widersprüchlich<br />

aus: Fritz W. wäre eigentlich ein «tüchtiger Messerschmied», er sei jedoch «faul» <strong>und</strong> liege bis 12 Uhr im<br />

Bett <strong>und</strong> lärme dafür nachts im Haus herum. Es täte ihm gar gut, wenn man ihn zur Arbeit «auf dem gros-<br />

sen Moos» zwingen würde. Er sei «schlimmschlau, ein schlauer Fink, ein Filu, der manchen zum Narren<br />

hält». Auch was seinen Geisteszustand betraf, waren die Aussagen nicht eindeutig: er sei «durchaus nicht<br />

geisteskrank, sondern weiss genau, was er tut». Aber: «normal ist er auch nicht, sondern ein regelrechter<br />

Stürmi, der immer weitläufig schwatzen muss <strong>und</strong> von Jung <strong>und</strong> Alt verspottet <strong>und</strong> gereizt wird». Fritz W.<br />

war, wie er selbst gegenüber den Psychiatern klagte, das Objekt häufigen Spotts <strong>und</strong> kleiner Bosheiten. So<br />

hatte man ihm seine Blumentöpfe zerbrochen, seine Fensterläden beworfen <strong>und</strong> sein Firmenschild ge-<br />

stohlen. In der Dorfwirtschaft habe man ihn veranlasst, für andere zu bezahlen <strong>und</strong> ihn dann, wenn er es<br />

tat, ausgelacht, ansonsten hätte man ihn verprügelt. Dass die Nachbarschaft Fritz W. mit Misstrauen be-<br />

trachteten, kam aus der Schilderung der Entdeckung seiner sexuellen Übergriffe auf die beiden Mädchen<br />

zum Ausdruck. Diese hatten für Fritz W. verschiedene Besorgungen gemacht. Dabei sei das «Gerede»<br />

entstanden, dieser vergreife sich an den Kindern. Als eines der Mädchen dann an Kopfweh <strong>und</strong> rätselhaf-<br />

ten «Anfällen» zu leiden begann, war der Verdacht der Nachbarin sogleich auf Fritz W. gefallen. Die von<br />

den psychiatrischen Experten befragten «Gewährsleute» waren sich alle einig, dass Fritz W. die ihm zur<br />

Last gelegten Taten begangen hatte, zumal er ja bereits früher wegen ähnlicher Taten bestraft worden<br />

sei. 1203<br />

In seinem Umfeld kam Fritz W. die Position eines Aussenseiters zu, den man ärgern <strong>und</strong> ausnutzen konn-<br />

te, vor dem man sich aber in Acht nehmen musste. Dabei wussten die Leute sehr wohl Bescheid über sein<br />

1202 Vgl. die Ausführungen bei Kaufmann, 1995, 243-255, über die Einschätzung «gefährlicher» Geisteskranker durch betroffene<br />

Dorfgemeinschaften.<br />

1203 Für die folgenden Ausführungen: StAB BB 15.4, Band 1842, Dossier 457, Gutachten über Fritz W., 15. November 1907.<br />

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