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Psychiatrie und Strafjustiz

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vom B<strong>und</strong>esrat eingeleitete Gesetzgebungsprozess Möglichkeiten, auch inhaltliche Reformpostulate ein-<br />

zubringen. Mit der Zusammensetzung der Expertenkommission, in der praktisch alle führenden Straf-<br />

rechtler der Schweiz, nebst Stooss Emil Zürcher, Alfred Gautier <strong>und</strong> der Berner Ordinarius Xaver Grete-<br />

ner (1852–1933), vertreten waren, anerkannte der B<strong>und</strong>esrat explizit die Kompetenzen der scientific commu-<br />

nity. Ebenfalls Einsitz in der Kommission nahmen Vertreter der Kantone, des B<strong>und</strong>esgerichts, der Bun-<br />

desverwaltung <strong>und</strong> des Strafvollzugs, nicht jedoch der Schweizer Ärzteschaft. 367<br />

Eine doppelte Reform<br />

Die Schweizer Juristen waren sich weitgehend einig über die Wünschbarkeit der Strafrechtseinheit. Um-<br />

stritten blieb dagegen die Frage, inwiefern ein vereinheitlichtes Strafrecht Postulate der internationalen<br />

Strafrechtsreformbewegung aufnehmen sollte. Für Stooss <strong>und</strong> andere Schweizer Mitglieder der IKV wie<br />

Zürcher <strong>und</strong> Gautier war klar, dass ein schweizerisches Strafgesetzbuch einen «doppelten Fortschritt»<br />

begründen sollte. 368 Zusätzlich zur Behebung jener Missstände, die sich aus dem föderalistischen «Rechts-<br />

wirrwarr» ergaben, bot in ihren Augen die Kodifikation des Strafrechts eine ideale Gelegenheit, um die<br />

kriminalpolitischen Forderungen der Reformbewegung nach einer wirksameren Verbrechensbekämpfung<br />

in die Praxis umzusetzen. 1925 schrieb Stooss rückblickend: «Der Auftrag, ein schweizerisches Strafge-<br />

setzbuch zu entwerfen, umfasste zwei Aufgaben: Die fünf<strong>und</strong>zwanzig kantonalen Strafgesetze durch ein<br />

einheitliches B<strong>und</strong>esstrafrecht zu ersetzen <strong>und</strong> das Verbrechen durch eine zweckmässige Kriminalpolitik<br />

wirksamer zu bekämpfen als bisher.» 369 Auf die doppelte Stossrichtung des schweizerischen Kodifikati-<br />

onsprojekts verwies ebenfalls der Vorsteher des Eidgenössischen Justizdepartements, B<strong>und</strong>esrat Louis<br />

Ruchonnet (1834–1893), als er im August 1890 die in Bern abgehaltene Hauptversammlung der IKV er-<br />

öffnete <strong>und</strong> den Anspruch des B<strong>und</strong>esrat betonte, «de présenter au pays un projet qui non seulement fût<br />

approprié aux mœurs et aux besoins de nos populations, mais qui tînt aussi un large compte des améliora-<br />

tions que les esprits les plus distingués de notre époque ont introduites déjà dans quelques législations ou<br />

qu’ils cherchent à y réaliser». 370 Die enge Verbindung von Rechtseinheit <strong>und</strong> Strafrechtsreform stiess aller-<br />

dings bei einzelnen Juristen auch auf Kritik. Heinrich Pfenninger (1846–1896), der als einer der wenigen<br />

Strafrechtler von Stooss nicht zur Mitarbeit an der Zeitschrift für Schweizer Strafrecht aufgefordert worden<br />

war, betonte auf dem Juristentag 1892, «dass man ein Fre<strong>und</strong> der Einheit <strong>und</strong> doch Gegner einer gewissen<br />

Art derselben sein kann». Pfenninger verwahrte sich denn auch vehement gegen eine Übertragung der<br />

Prinzipien der IKV auf ein vereinheitlichtes Strafrecht <strong>und</strong> gegen die «Herrschaft der Kriminalpolitik» in<br />

der Strafrechtspflege. 371<br />

Wenngleich von der internationalen Reformbewegung wichtige Impulse für die kriminalpolitischen Lern-<br />

prozesse in der Schweiz ausgingen, so ist dennoch nicht zu übersehen, dass die Schweizer Strafrechtsre-<br />

former die Reformpostulate auf unterschiedliche Weise rezipierten. Ihre Ansichten gingen namentlich<br />

über die von den Kriminalanthropologen geforderte Preisgabe des Schuldstrafrechts auseinander. Als<br />

einer der wenigen Schweizer Juristen bekannte sich Zürcher offen zu den von den Kriminalanthropologen<br />

vorgezeichneten «neuen Horizonten» einer reinen «Zweckstrafe». In Vorträgen <strong>und</strong> Lehrveranstaltungen<br />

begrüsste er zu Beginn der 1890er Jahren die von Lombroso <strong>und</strong> Ferri geforderte Preisgabe des Schuld-<br />

strafrechts <strong>und</strong> verlangte, dass sich die «Verteidigungsmassregeln der Gesellschaft» künftig nicht mehr<br />

«nach der äusseren Tat, sondern nach der Gefährlichkeit des Täters» bemessen sollten. In sozialdarwinisti-<br />

367 Vgl. Expertenkommission, 1893.<br />

368 Stooss, 1891, 245.<br />

369 Stooss, 1925, 213.<br />

370 Mitteilungen der Internationalen Kriminalistischen Vereinigung, 2, 1891, 205f.<br />

371 Verhandlungen des Schweizerischen Juristenvereins vom 5./6. September 1892, in: ZSR, 11, 1892, 579-581.<br />

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