13.09.2013 Aufrufe

Psychiatrie und Strafjustiz

Psychiatrie und Strafjustiz

Psychiatrie und Strafjustiz

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.

YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.

chen würden in der Schweiz föderalistische, konfessionelle <strong>und</strong> sprachliche Widerstände im Wege stehen.<br />

Zudem liesse sich in einer solchen Anstalt keine zweckmässige Behandlung durchführen. 1296<br />

Fazit: Ungelöste Probleme <strong>und</strong> neue Lösungsstrategien<br />

Die Diskussion auf der Konferenz der Sanitätsdirektoren leitet bereits zur Debatte um die Auswirkungen<br />

der Einführung des Strafgesetzbuchs über, worauf in Kapitel 11.2 zurückzukommen sein wird. Im Rück-<br />

blick macht die Debatte um die Unterbringung geistesgestörter DelinquentInnen zwischen 1890 <strong>und</strong> 1940<br />

einen weitgehend zirkulären Eindruck. Eine Lösung des Verwahrungsproblems scheint in der Schweiz<br />

kaum vom Fleck gekommen zu sein. Die Uneinigkeit über die im europäischen Umfeld vorhandenen<br />

Modelle <strong>und</strong> unterschiedliche Problemeinschätzungen verunmöglichten eine geschlossene Position von<br />

Psychiatern <strong>und</strong> Strafrechtsreformern. Vernachlässigten die ersten Vorentwürfe für ein Strafgesetzbuch<br />

die Frage der Verwahrung abnormer Delinquenten noch weitgehend, so griffen einige Psychiater die Frage<br />

zwar nach der Jahrh<strong>und</strong>ertwende auf, eine einheitliche Position erarbeitete sich die Disziplin indes nicht.<br />

Kurz vor dem Ersten Weltkrieg kristallisierten sich dann kurzfristig ein Konsens heraus, der in der Vertei-<br />

lung der «verbrecherischen Geisteskranken» auf die bestehenden Irrenanstalten <strong>und</strong> in der Errichtung<br />

daran angeschlossener Annexe eine Lösung des Verwahrungsproblems sah. Erste Ansätze, die in diese<br />

Richtung zielten, kamen jedoch nicht aus dem Projektstadium heraus. Zudem reduzierten die Verantwort-<br />

lichen den (finanz-)politischen Handlungsbedarf wieder zusehends, um damit die laufende Strafrechtsre-<br />

form nicht durch das Projektieren zu vieler Anstaltstypen zu gefährden. Dass Spezialeinrichtungen, wie sie<br />

namentlich in Deutschland <strong>und</strong> Belgien bestanden, Potenziale für eine institutionelle Ausdifferenzierung<br />

der forensischen <strong>Psychiatrie</strong> bargen, wurde zwar auch in der Schweiz erkannt – etwa von Nationalrat Ga-<br />

buzzi oder Psychiater Garnier. Systematisch verfolgt wurde die Strategie einer institutionellen Ausdifferenzierung,<br />

wie sie etwa gleichzeitig in der Kinderpsychiatrie stattfand, für im Bereich der Forensik jedoch<br />

nicht. 1297 Die fehlende Ausdifferenzierung hatte zur Folge, dass sich die Wahrnehmung forensisch-<br />

psychiatrischer Begutachtungs- <strong>und</strong> Verwahrungsaufgaben nach wie vor auf die kantonalen Irrenanstalten<br />

konzentrierte. Dabei stellte vor allem die Verwahrung ausgesprochener «Grenzfälle» die Irrenanstalten vor<br />

Probleme. Es erstaunt deshalb nicht, dass das Fehlen institutioneller Alternativen innerhalb der <strong>Psychiatrie</strong><br />

Lernprozesse in Gang setzte, die auf eine Entlastung der Irrenanstalten durch die Abschiebung von<br />

«Problemfällen» in den regulären Strafvollzug hinausliefen. Gefördert wurden solche Tendenzen zu einer<br />

Demedikalisierung des Massnahmenvollzugs durch Entwicklungen im Strafvollzug <strong>und</strong> in der Anstalts-<br />

psychiatrie. Einerseits eröffneten die kantonalen Verwahrungsgesetze Alternativen zur psychiatrischen<br />

Verwahrung «abnormer» DelinquentInnen, andererseits erschienen renitente <strong>und</strong> störende InsassInnen ob<br />

der Einführung neuer Therapiemethoden mehr denn je als «Fremdkörper» im Anstaltsbetrieb.<br />

9.2 Demedikalisierungstendenzen: Zurechnungsfähigkeit <strong>und</strong> «Grenzfälle»<br />

Wie in Kapitel 4 gezeigt worden ist, stellte zwischen 1890 <strong>und</strong> 1910 die Frage der Zurechnungsfähigkeit<br />

einen zentralen Bezugspunkt des forensisch-psychiatrischen Diskurses in der Schweiz dar. Im Zentrum<br />

der Debatte stand dabei die Legaldefinition der Zurechnungsfähigkeit im künftigen schweizerischen Straf-<br />

gesetzbuch. Es ist die These aufgestellt worden, dass diese Debatte weniger als einen Kompetenzstreit<br />

zwischen Juristen <strong>und</strong> Psychiatern denn als einen Versuch der Schweizer Psychiater zu interpretieren ist,<br />

die Bedingungen, unter denen der Transfer von Wissen zwischen den beiden Bezugssystemen künftig<br />

stattfinden soll, zu normieren. Bekanntlich verlor die Zurechnungsfähigkeitsdebatte bereits vor dem Ers-<br />

ten Weltkrieg ihren Nimbus als kriminalpolitische Gr<strong>und</strong>satzfrage, so dass sich die ehemaligen Kontra-<br />

1296 Kielholz, 1939.<br />

1297 Zur Ausdifferenzierung der Kinderpsychiatrie: Zürrer-Simmen, 1994; Jorisch-Wissnik, 1986.<br />

320

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!