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Psychiatrie und Strafjustiz

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hatte das Berner Vollzugsmodell zur Folge, dass psychiatrische Experten nicht nur bei der Anordnung,<br />

sondern auch beim Vollzug sichernder Massnahmen eine entscheidende Rolle spielten. Exemplarisch<br />

untersucht wird diese wachsende Präsenz psychiatrischen Expertenwissens im Straf- <strong>und</strong> Massnahmen-<br />

vollzug in Kapitel 11.4 am Beispiel der psychiatrischen Sprechst<strong>und</strong>en in den Berner Strafanstalten. Für<br />

die <strong>Psychiatrie</strong> bedeutete das «flexible Berner Modell» eine beträchtliche Entlastung, erlaubte es doch,<br />

DelinquentInnen, die aufgr<strong>und</strong> von Artikel 14 des Strafgesetzbuchs in «Heil- oder Pflegeanstalten» ver-<br />

wahrt werden sollten, in nicht medizinisch geleitete Anstalten abzuschieben. Damit gelangten im Berner<br />

Massnahmenvollzug jene Demedikalisierungstendenzen zum Durchbruch, die sich schon in den in Kapitel<br />

9 analysierten forensisch-psychiatrischen Debatten der Vor- <strong>und</strong> Zwischenkriegszeit abgezeichnet hatten.<br />

Definitiv besiegelt wurden diese Demedikalisierungstendenzen, die im Wesentlichen von vollzugsprakti-<br />

schen Interessen seitens der Verwaltungsbehörden <strong>und</strong> der <strong>Psychiatrie</strong> vorangetrieben wurden, durch die<br />

b<strong>und</strong>esgerichtliche Rechtssprechung in den 1950er Jahren.<br />

11.2 Die psychiatrische scientific community <strong>und</strong> das neue Strafgesetzbuch: Reaktionsmuster,<br />

Problemwahrnehmungen <strong>und</strong> Lösungsansätze<br />

Das zu Beginn dieser Untersuchung zitierte Votum Max Müllers verdeutlicht die Ambivalenz aus Begeis-<br />

terung <strong>und</strong> wachsendem Problembewusstsein, mit der die psychiatrische scientific community auf die Einfüh-<br />

rung des schweizerischen Strafgesetzbuchs reagierte. Die Einschätzung der neuen Situation durch die<br />

Schweizer Psychiater kommt umfassend in den Diskussionsvoten dreier Tagungen in den Jahren 1943 <strong>und</strong><br />

1944 zum Ausdruck. Sowohl auf der Tagung des Nationalkomitees für geistige Hygiene vom April 1943, als<br />

auch auf der Herbsttagung der Schweizerischen Kriminalistischen Gesellschaft des gleichen Jahres wurden die<br />

Auswirkungen des neuen Strafrechts auf die <strong>Psychiatrie</strong> eingehend thematisiert. 1482 Im Juni 1944 widmete<br />

die Schweizerische Gesellschaft für <strong>Psychiatrie</strong> schliesslich ihre Halbjahresversammlung dem neuen Strafgesetz-<br />

buch. Anhand der Diskussionsvoten dieser Tagungen lassen sich die Reaktionsmuster <strong>und</strong> Problemwahr-<br />

nehmungen der Schweizer Psychiater im Zusammenhang mit den neuen Herausforderungen rekonstruie-<br />

ren. Ebenfalls analysiert werden im Folgenden die von führenden Exponenten der Disziplin formulierten<br />

Ansätze zur Lösung des sich nach 1942 mit neuer Dringlichkeit stellenden Verwahrungsproblems. Dabei<br />

wird sich zeigen, dass die Diskussionen in den 1940er Jahren eng an die in Kapitel 9 dargestellten foren-<br />

sisch-psychiatrischen Debatten der Zwischenkriegszeit anschlossen. Diese hielten gleichsam ein Argumen-<br />

tationsarsenal bereit, das sich auch nach der Einführung des neuen Strafgesetzbuchs aktivieren liess.<br />

Das neue Strafgesetzbuch – Kulturfortschritt <strong>und</strong> Kompromiss<br />

«Unser neues Strafgesetzbuch bedeutet einen gewaltigen Fortschritt in Bezug auf die Bekämpfung des<br />

Verbrechens sowohl durch die neuen Gesichtspunkte, die darin sich durchgesetzt haben, wie durch die<br />

Vereinheitlichung für das ganze Gebiet unseres Landes.» 1483 Mit diesen Worten eröffnete der Direktor des<br />

Burghölzli, Hans W. Maier, im April 1943 sein Referat vor dem Nationalkomitee für geistige Hygiene <strong>und</strong> reka-<br />

pitulierte dabei das jahrzehntelange Engagement der Schweizer <strong>Psychiatrie</strong> für die Strafrechtsreform <strong>und</strong><br />

die Rechtseinheit. Für Maier stellte das neue Strafrecht ein «Instrument des sozialen Fortschritts <strong>und</strong> der<br />

Kultur» dar, denn es habe nicht mehr allein die begangene Tat, sondern auch die Gesinnung des Straftä-<br />

ters im Auge. Das neue Gesetz würde nebst den traditionellen Strafzecken der Vergeltung <strong>und</strong> der Ab-<br />

schreckung endlich auch der «Besserung <strong>und</strong> der sozialen Wiedereinfügung des Verbrechers» ein grosses<br />

Gewicht beimessen. Wie freisinnige <strong>und</strong> sozialdemokratische Parlamentarier sah Maier im neuen Strafge-<br />

1482 Zur Gründung der Schweizerischen Kriminalistischen Gesellschaft nach der Einführung des Strafgesetzbuchs: Martin, 1992.<br />

1483 Maier, 1943, 154.<br />

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