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Psychiatrie und Strafjustiz

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sans laquelle on ne peut plus parler vraiment de la peine et de justice pénale.» 1365 Perrier stiess sich vor<br />

allem an den Bestimmungen über die verminderte Zurechnungsfähigkeit <strong>und</strong> dem grossen Ermessens-<br />

spielraum des Richters bei der Festlegung des Strafmasses. Beide würde dem Missbrauch Tor <strong>und</strong> Tür<br />

öffnen. Solche Postulate, so Perrier weiter, würden auf die «moderne Schule» zurückgehen, deren Er-<br />

kenntnisse einst als Fortschritt gefeiert worden seien. Heute habe sich die Situation aber gründlich geän-<br />

dert: «La situation a changé. Nous avons passé par la guerre, par la crise d'après-guerre, et par la révoluti-<br />

on: on se rend compte qu’on ne peut pas, dans la même mesure qu’autrefois faire du sentimentalisme; on<br />

ne peut plus se contenter de considérer le criminel et de perdre presque complètement de vue l’acte crimi-<br />

nel lui-même. La société a été ébranlée sur ces fondements; ce n’est pas le moment de diminuer la notion<br />

de la responsabilité humaine et de la pénalité.» 1366 In die gleiche Richtung zielte der katholisch-<br />

konservative Walliser Ständerat Raymond Evéquoz (1864–1937): «Ce code est trop imprégné des idées de<br />

l’école positiviste, dont Lombroso fut le chef le plus distingué. Cette doctrine fait abstraction de la respon-<br />

sabilité morale; elle admet que les actes de l’homme sont déterminés par des causes internes ou externes,<br />

indépendantes de la volonté. C’est en réalité la négation du concept du libre arbitre, dont la conséquence<br />

est la responsabilité morale.» 1367 Das Aufweichen des Schuldstrafrechts geriet hier zum Signum gesell-<br />

schaftlicher Unsicherheit. Die konstatierte moralische Krise wurde im Bereich des Strafrechts mit einer<br />

Zurücknahme der individuellen Verantwortlichkeit identifiziert. In dieser Perspektive ebneten medizini-<br />

sche <strong>und</strong> soziale Deutungsmuster kriminellen Verhaltens den Boden für eine kriminalpolitische Laxheit,<br />

die ihrerseits die Gesellschaftsordnung in Gefahr brachte. Dass sich solche Befürchtungen in der Zwi-<br />

schenkriegszeit keineswegs auf konservative Kreise beschränkten, verdeutlichen die Argumente, die der<br />

Psychiater Maier in der im vorhergehenden Kapitel analysierten Kontroverse mit einem Zürcher Rechts-<br />

anwalt ins Feld geführt hatte. Der konservative Kriminalitätsdiskurs <strong>und</strong> die Demedikalisierungstendenzen<br />

innerhalb der <strong>Psychiatrie</strong> konvergierten insofern, als sie eine laxe Exkulpationspraxis, wie sie von den<br />

Psychiatern vor dem Ersten Weltkrieg gefordert worden war, zusehends ablehnten. Ungeachtet der ge-<br />

meinsamen Stossrichtung, unterschieden sich diese Kritiken aber hinsichtlich ihrer Begründungszusam-<br />

menhänge.<br />

Die Kritiker des b<strong>und</strong>esrätlichen Entwurfs sahen im traditionellen Schuld- <strong>und</strong> Vergeltungsstrafrecht<br />

weiterhin ein probates kriminalpolitisches Heilmittel. So hielt der katholisch-konservative Bündner Natio-<br />

nalrat Johann Bossi (1874–1956) dem Votum Hubers entgegen, dass sich der Gesetzgeber auf den «Boden<br />

der allgemeinen <strong>und</strong> althergebrachten Volksüberzeugung» zu stellen habe <strong>und</strong> diese nur in eng begrenzten<br />

Fällen verlassen dürfe. Das Strafgesetzbuch werde nur dann Bestand haben, «wenn es die allgemeine An-<br />

schauung über Schuld, Verantwortlichkeit <strong>und</strong> Strafe widerspiegelt <strong>und</strong> dem Rechtsgefühl des Volkes<br />

entspricht». 1368 Wie die Befürworter des Entwurfs benutzten auch die Gegner die Frage der Todesstrafe<br />

zur Profilierung. Deutlich zum Ausdruck kamen dabei die religiösen F<strong>und</strong>amente der konservativen Kri-<br />

minalpolitik. Der St. Galler Konservative Emil Grünenfelder (1873–1971) sah in der Todesstrafe einen<br />

adäquaten Ausgleich für schweres Unrecht. Die Strafe bekam dadurch die Funktion der «Wiederherstel-<br />

lung eines Gleichgewichts». Grünenfelder bestritt, dass die Strafe in erster Linie der Besserung des Ver-<br />

brechers dienen sollte: «Das Prinzip der Erziehung kann unmöglich hier das allein Massgebende sein.<br />

Wenn selbst von einem Verbrecher die Überzeugung bestünde, dass er sich gebessert habe, in sich gekehrt<br />

sei, so weit, dass er keine Gefahr für die Menschheit mehr bilde, <strong>und</strong> wenn er dann entlassen würde, so<br />

1365 Sten. Bull. NR, 1928, 39.<br />

1366 Sten. Bull. NR, 1928, 39. Perrier führte hier die Argumente an, mit denen er 1924 als Freiburger Justizdirektor bereits das<br />

kantonale Strafgesetz befürwortet hatte; vgl. Kp. 10.2.<br />

1367 Sten. Bull. SR, 1931, 84 f.<br />

1368 Sten. Bull. NR, 1928, 50.<br />

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