13.09.2013 Aufrufe

Psychiatrie und Strafjustiz

Psychiatrie und Strafjustiz

Psychiatrie und Strafjustiz

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Erfolgreiche ePaper selbst erstellen

Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.

ubrizierte Kraepelin nun in erster Linie Psychopathentypen, die in forensischer Hinsicht relevant waren:<br />

«Geborene Verbrecher», «Haltlose», «Krankhafte Lügner» <strong>und</strong> «Pseudoquerulanten». Die Gruppe des<br />

«impulsiven Irreseins», welche die früheren als Spezialmanien beinhaltete, teilte Kraepelin dagegen den<br />

«originären Krankheitszuständen» zu. 279<br />

Im Vergleich zu den Arbeiten Kochs stellte Kraepelins Beitrag zum Psychopathiekonzept insofern eine<br />

Stabilisierung dar, als er bestrebt war, die verschiedenen Untergruppen auf Lehrbuchebene zu systemati-<br />

sieren. Mit der Abgrenzung der «Psychopathie» vom Zustandsbild des «Schwachsinns» sowie weiterer<br />

differentaldiagnostischer Aufspaltungen unternahm er eine Differenzierung des Konzepts, an die seine<br />

Schüler anzuschliessen vermochten. 280 Kraepelins Konzept der «psychopathischen Persönlichkeit» bedeu-<br />

tete jedoch nicht nur hinsichtlich der klassifikatorischen Systematisierung eine Stabilisierung, sondern auch<br />

in Bezug auf Verankerung einer diskursive Matrix, die dem Psychopathiekonzept innere Stringenz <strong>und</strong><br />

Plausibilität gegen Aussen verlieh. Diese Matrix war keineswegs starr, sondern erlaubte den psychiatri-<br />

schen Sachverständigen, konzeptuelle Prämissen <strong>und</strong> die konkreten Umstände eines Kriminalfalls flexibel<br />

aufeinander zu beziehen. Die diskursive Matrix des Psychopathiekonzepts, wie sie im Folgenden im Hinblick<br />

auf die in Kapitel 7.53 anzustellenden Einzelfallanalysen rekonstruiert werden soll, bestand im We-<br />

sentlichen aus vier miteinander verb<strong>und</strong>enen Elementen.<br />

Erstens: In der Tradition der Degenerationstheorie lokalisierte das Psychopathiekonzept die Ursache der<br />

Geistesstörungen primär in einer vererbten Veranlagung der betroffenen Individuen. Dies, obwohl die Psy-<br />

chiatrie bis weit in die Zwischenkriegszeit hinein kaum über Erkenntnisse bezüglich der Vererbungsmechanismen<br />

verfügte. 281 Solche diffuse Veranlagungen wurden im Sinn einer «psychopathischen Dispositi-<br />

on» verstanden, das heisst einer erblich übertragenen Anlage, die sich als «Entartung» des zentralen Ner-<br />

vensystems manifestierte <strong>und</strong> dadurch nachhaltig die Charakterentwicklung beeinflusste. Die betroffenen<br />

Individuen galten als «krankhaft angelegten Persönlichkeiten», deren Persönlichkeitsstruktur als unverän-<br />

derlich <strong>und</strong> therapieresistent betrachtet wurden. 282 Gleichzeitig schloss das Psychopathiekonzept morbide<br />

Umwelteinflüsse wie beispielsweise Alkoholkonsum als Erklärungsfaktoren keineswegs aus. Zweitens: Wie<br />

die früheren Spezialmanien fokussierte das Psychopathiekonzept auf Störungen der Affekte <strong>und</strong> des Willens<br />

<strong>und</strong> nahm dadurch die Willenssemantik des bürgerlichen Strafdiskurses unter veränderten Vorzeichen<br />

wieder auf. Dabei wurde vorausgesetzt, dass die affektiven <strong>und</strong> voluntativen psychischen Funktionen<br />

weitgehend unabhängig von Intelligenzminderungen oder Bewusstseinsstörungen wie Halluzinationen<br />

oder Wahnvorstellungen geschädigt sein konnten. 283 Solche Affekt- <strong>und</strong> Willensstörungen konnten sich in<br />

«einer angeborenen Gemütlosigkeit», «Zwangshandlungen», einer allgemeinen «Willensschwäche», Stim-<br />

mungsschwankungen, «einer erhöhten Reizbarkeit, Launenhaftigkeit <strong>und</strong> Empfindlichkeit», oder im<br />

«Mangel an Ausdauer, Widerstandsfähigkeit <strong>und</strong> Tatkraft» äussern. Als zentral für die forensische Psychi-<br />

atrie erwies sich die innere Ausdifferenzierung des Psychopathiekonzepts in die Formen des «moralischen<br />

Irreseins» <strong>und</strong> der «Haltlosigkeit». Bezog sich das Deutungsmuster des «moralischen Irreseins» auf einen<br />

pathologischen «Mangel des Mitgefühls», der die betreffenden Individuen in einen steten «Kampf mit dem<br />

279 Kraepelin, 1904, II, 815-841.<br />

280 Vgl. Schneider, 1940.<br />

281 Vgl. Weber, 1993, 95-104.<br />

282 Kraepelin, 1904, 815f. Das Psychopathiekonzept war gr<strong>und</strong>sätzlich geschlechtsneutral formuliert, da es von einer «Entartung»<br />

des Gehirns ausging, die beide Geschlechter in gleicher Weise betreffen konnte. Dies verhinderte indes nicht, dass Abweichungen<br />

von den normativen Geschlechterrollen pathologisiert werden konnten, wobei zu unterscheiden ist, ob diese Pathologisierung<br />

aufgr<strong>und</strong> der Annahme unterschiedlicher Strukturen des zentralen <strong>und</strong> peripheren Nervensystems erfolgte, oder ob Verfehlungen<br />

an den geschlechtsspezifischen Rollenerwartungen auf eine an sich geschlechtsneutrale «Entartung» zurückgeführt wurde; vgl.<br />

etwa Kraepelin, 1915 IV, 2015f. Zur Geschlechtsspezifität psychiatrischer Deutungsmuster im 19. Jahrh<strong>und</strong>ert: Schmersahl, 1998.<br />

283 Kraepelin, 1904 II, 817.<br />

67

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!