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Psychiatrie und Strafjustiz

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Botschaft des B<strong>und</strong>esrats definierten die Zurechnungsfähigkeit somit durch eine gemischte Umschrei-<br />

bung: «Wer wegen Geisteskrankheit, Blödsinns oder schwerer Störung des Bewusstseins zur Zeit der Tat<br />

nicht fähig ist, das Unrecht seiner Tat einzusehen oder dieser Einsicht gemäss zu handeln, ist nicht straf-<br />

bar.» 564 Seitens der Irrenärzte wurde die neue Fassung ebenfalls, wenn auch zögerlich begrüsst. Im Februar<br />

1913 bezeichnete Hans W. Maier auf einer Versammlung der Schweizer Landesgruppe der IKV die von<br />

der Kommission vorgenommene Änderung als «Kompromiss», der «keinen wesentlichen Rückschritt<br />

befürchten» lasse. Maier gewann der gemischten Definition sogar Vorteile ab, würde sie die Sachverstän-<br />

digen doch zwingen, «nicht nur die Krankheit zu beweisen, sondern wenn möglich die Tat aus der Individualität<br />

des geistesgestörten Menschen zu erklären». Dies verhindere, dass eine rechtliche Würdigung des<br />

ärztlichen Bef<strong>und</strong>s allein dem Richter überlassen werde. 565 Maier kehrte die Argumentation seiner älteren<br />

Fachkollegen nun gleichsam auf den Kopf. Hatten sich diese noch daran gestossen, in ihren Gutachten zu<br />

Rechtsbegriffen Stellung nehmen zu müssen, so war es in den Augen Maiers gerade diese Stellungnahme,<br />

die den Sachverständigen erlaubte, die Anschlussfähigkeit ihrer Aussagen im Justizsystem sicherzustellen.<br />

Im Gegensatz zu seinen Vorgängern erkannte Maier, dass das kalkulierte Hantieren mit juristischen Beg-<br />

riffen den Sachverständigen grössere Möglichkeiten gab, auf die Entscheidungsfindung der Justizbehörden<br />

einzuwirken, als der Rückzug auf eine blosse Diagnoseerstellung. Einig war sich Maier hingegen über die<br />

Berechtigung des – nun in die Nähe der Verwirklichung gerückten – Hauptanliegens der Irrenärzte von<br />

1893: «Die Hauptsache ist, dass der Stein des Anstosses, der uns heute bei der Abgabe jedes durchdachten<br />

Gutachtens in die Quere kommt, der Begriff <strong>und</strong> die Bezeichnung der ‹freien Willensäusserung›, endgültig<br />

dahin fällt.» 566 Damit war gleichsam ein Strich unter die Willenssemantik des bürgerlichen Strafdiskurses<br />

gezogen.<br />

Fazit: Arbeitsteilige Kriminalitätsbewältigung statt kriminalpolitischer Radikalismus<br />

Die rechtspolitischen Interventionen der Schweizer Irrenärzte zielten im Bereich der Zurechnungsfähig-<br />

keit im Wesentlichen darauf ab, die strafrechtlichen Bestimmungen terminologisch <strong>und</strong> konzeptuell dem<br />

modernen psychiatrischen Wissen anzugleichen. Einerseits sollte die juristische Willenssemantik durch<br />

eine medizinische Diagnoseerstellung ersetzt, zum andern sollte mit der Aufnahme einer verminderten<br />

Zurechnungsfähigkeit dem psychiatrisch neu erschlossenen Übergangsgebiet zwischen Krankheit <strong>und</strong><br />

Ges<strong>und</strong>heit Rechnung getragen werden. Von ihrer Einflussnahme auf die Definition der Zurechnungsfä-<br />

higkeit <strong>und</strong> damit auf die intersystemischen Koppelungsbedingungen versprachen sich die Irrenärzte we-<br />

niger eine Ausweitung ihrer Kompetenzen als eine Vereinfachung ihrer Arbeitsmodalitäten. Systemtheore-<br />

tisch betrachtet, bemühten sich die Irrenärzte, mit einer klaren Markierung der (medizinischen) System-<br />

grenzen zu einer reibungslosen interdisziplinären Zusammenarbeit beizutragen. Die standespolitische<br />

Tragweite der Zurechnungsfähigkeitsdebatte ist demnach beträchtlich zu nuancieren. Die Reformvor-<br />

schläge der Psychiater distanzierten sich denn auch offen von einem kriminalpolitischen Radikalismus, der<br />

eine vollständige Preisgabe des Kriteriums der Zurechnungsfähigkeit verlangte. Dieser Pragmatismus zahl-<br />

te sich insofern aus, als ihre Vorschläge die Zustimmung der führenden Strafrechtsreformer fanden. Be-<br />

sonders deutlich zum Ausdruck kam diese Unterstützung im Zusammenhang mit dem Vorentwurf von<br />

1893, als es den Irrenärzten dank einem aktiv betriebenen networking gelang, ihre Vorschläge in den Ge-<br />

setzgebungsprozess einzubringen. Die Strafrechtsreformer waren zudem bereit, die Anliegen der Irrenärz-<br />

te in den verschiedenen Expertenkommissionen gegen die Kritik traditionalistischer Juristen zu verteidi-<br />

gen, die hinter den psychiatrischen Vorstössen Versuche witterten, die Kompetenzen der Justizbehörden<br />

564 VE 1916, Artikel 12; BBl, 1918 IV, 106 (Art. 10) (siehe Anhang 1).<br />

565 Maier, 1913, 288f.<br />

566 Maier, 1913, 28, Maier, 1913a, 299.<br />

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