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Psychiatrie und Strafjustiz

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H. hatte im November 1919 im Hause seiner Eltern in Biel ein zehnjähriges Ferienkind die Kellertreppe<br />

herunter gestossen <strong>und</strong> versucht, das blutende <strong>und</strong> stöhnende Mädchen mit einem Stein zu erschlagen.<br />

Der herbei eilende Vater konnte ein weiteres Zuschlagen jedoch verhindern, so dass das Mädchen mit<br />

Verletzungen davon kam. Gemäss den Angaben von Friedrich H. hatte ihn das Kind gefragt, ob er seinen<br />

Eltern böse sei, worauf er ihm einen Stoss versetzte, so dass es dir Treppe hinunterfiel. «Aus Verzweif-<br />

lung, um die Sache zu vertuschen <strong>und</strong> dem Schreien ein Ende zu machen», habe er schliesslich zuschlagen<br />

wollen. Später sagte Friedrich F. dagegen aus, das Kind sei unglücklich gestürzt <strong>und</strong> er habe aus «Mitleid»<br />

zuschlagen wollen. Bereits bei der ersten Befragung durch den zuständigen Untersuchungsrichter gaben<br />

die Angehörigen <strong>und</strong> Bekannten an, Friedrich H. sei seit einiger Zeit geistesgestört. So erzählte der Vater,<br />

dass «es bei Fritz zu hapern begann, nachdem er das Technikum mit gutem Erfolg absolviert hatte». Sein<br />

Sohn sei wenig unter die Leute gegangen <strong>und</strong> habe «als Stubenhocker abseits liegenden Theorien nachge-<br />

grübelt». Er sei «nervös, aufgeregt, missgelaunt, empfindlich <strong>und</strong> jähzornig» geworden: «Von Zeit zu Zeit<br />

wurde Fritz grob <strong>und</strong> unbotmässig, beschimpfte die Eltern <strong>und</strong> zerbrach Geschirr, zerstörte seine Dip-<br />

lomarbeit <strong>und</strong> war dann plötzlich wieder der liebste Kerl, der reuig um Verzeihung bat.» Auch der jüngere<br />

Bruder deponierte, Friedrich verrate «schon seit geraumer Zeit periodisch Zeichen von Geistesgestört-<br />

heit», brause in Zorn auf, wenn man ihm nicht zuhören wolle, ziehe sich zurück <strong>und</strong> gebe sich die «Postur<br />

eines Propheten». «Es geht mit seinen Fähigkeiten bedenklich bergab. Während er früher architektonisch<br />

sehr geschickt zeichnete, kritzelt er jetzt Dinge auf das Papier, die jeder Knabe besser fertig bringt. Er<br />

studiert St<strong>und</strong>en lang an einem Bauplan herum <strong>und</strong> am Ende ist es ein simples Quadrat mit einer Lücke<br />

an jeder Seite, die wohl die Fenster vorstellen sollen; <strong>und</strong> das erklärt er triumphierend für das Grossartigs-<br />

te, was seinem Haupt entsprungen ist [...].» Sich selbst bezeichnete Friedrich H. dagegen als «kernges<strong>und</strong><br />

im Hirn». 893<br />

Anhand solcher Zeugenaussagen rekonstruierten die Sachverständigen die Lebens- <strong>und</strong> Krankheitsge-<br />

schichte von Friedrich H. Dieser hatte nach dem Schulabschluss auf Drängen des Vaters eine Bürolehre<br />

begonnen, um kurz darauf ans Technikum in Biel zu wechseln, wo er 1914 das Examen bestand. Nach der<br />

Rekrutenschule begab er sich nach Berlin, wo er in einem Ingenieurbüro tätig war. In die Schweiz zurück-<br />

gekehrt, arbeitete er in der Nähe von Biel. Wie Vater <strong>und</strong> Bruder den Psychiatern übereinstimmend beteu-<br />

erten, änderte sich sein Verhalten nun merklich: «Von da an aber leistete F. H. nichts Rechtes mehr; er war<br />

meist zu Hause <strong>und</strong> nur kurze Zeit in Stellen [...]. Er war immer nur in bescheideneren Geschäften tätig,<br />

blieb nirgends lange <strong>und</strong> kam herunter. Zu Hause gab er sich mit dem Zeichnen von primitiven Häuser-<br />

plänen ab; diese waren aber nicht ausgearbeitet, kindisch <strong>und</strong> würden in ihrer Form nicht ausführbar ge-<br />

wesen sein. Sie bestanden aus ein paar Strichen <strong>und</strong> Bemerkungen in abgebrochenen Sätzen. F. H. brachte<br />

es zu keiner ernsten <strong>und</strong> anhaltenden Arbeit mehr; es handelte sich vielmehr um ein stumpfes Brüten. [...]<br />

Zu Hause hielt er sich fast nur in seinem Zimmer auf <strong>und</strong> kam kaum zum Essen. Während den Mahlzei-<br />

ten konnte er beim geringsten Widerspruch plötzlich böse werden <strong>und</strong> einen Teller zu Boden werden;<br />

hierauf klagte er, man wolle ihn nicht verstehen. Halbe Tage schloss er sich ein, <strong>und</strong> er setzte ab <strong>und</strong> zu<br />

Mahlzeiten aus. Er lag gelegentlich am Tag zu Bett <strong>und</strong> zeichnete dafür nachts. Wollte er etwa ausgehen,<br />

so fiel seine grosse Unentschlossenheit auf: Er stand lange unter der Türe <strong>und</strong> fragte sich, ob er solle oder<br />

nicht.» Schliesslich beschaffte ihm der Vater eine Stelle als Handlanger bei einem benachbarten Mechani-<br />

ker. 894<br />

893 UPD KG 9017, Psychiatrisches Gutachten über Friedrich H., 17. April 1920, Aussagen des Vaters <strong>und</strong> des Bruders vor dem<br />

Untersuchungsrichter.<br />

894 UPD KG 9017, Psychiatrisches Gutachten über Friedrich H., 17. April 1920, Aussage des Vaters <strong>und</strong> des Bruders vor den<br />

Sachverständigen.<br />

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