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Psychiatrie und Strafjustiz

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die nach wie vor desolaten sanitären Verhältnisse aufmerksam, die durch die Erweiterungen <strong>und</strong> Umbau-<br />

ten kaum verbessert worden waren. 656 Was liberale Reformer wie Hungerbühler forderten, war eine strikte<br />

Trennung von körperlich <strong>und</strong> psychisch Kranken <strong>und</strong> eine adäquate Behandlung der letzteren. Auch die<br />

Berner Regierung machte sich in den 1830er Jahren Gedanken über den Bau einer neuen Irrenanstalt <strong>und</strong><br />

veranstaltete 1839 eine Zählung aller Geisteskranken im Kanton, um die Grösse der zu erstellenden<br />

«zweckmässigen Kantonal-Anstalt für Irre» abzuschätzen. 657 Doch erst 1855 konnte die neue kantonale<br />

«Irren-, Heil- <strong>und</strong> Pflegeanstalt Waldau» eingeweiht werden. 658 Ihr Zweck bestand primär in der «Heilung<br />

<strong>und</strong> Verpflegung seelengestörter Menschen». Daneben oblag ihr die Aufgabe der Verwahrung von «gefährlichen<br />

Irren». Die Leitung der Anstalt «in allen sanitarischen <strong>und</strong> administrativen Angelegenheiten» lag<br />

in den Händen eines Direktors, der zugleich erster Arzt war <strong>und</strong> dem Inselspital unterstand. 659 Im Gegen-<br />

satz zu andern Schweizer Irrenanstalten stand die Waldau somit von Beginn an unter ärztlicher Leitung. 660<br />

Die Entstehung der Waldau ist nur ein Beispiel für den Irrenanstaltsboom der zweiten Hälfte des 19.<br />

Jahrh<strong>und</strong>erts. 1914 konnten in der Schweiz bereits zwanzig kantonale Irrenanstalten oder auf die Behand-<br />

lung von Geisteskranken spezialisierte Spitalabteilungen gezählt werden, die meist nach 1850 entstanden<br />

waren. 661 Damit verfügten vor dem Ersten Weltkrieg alle grösseren <strong>und</strong> mittleren Kantone über eigene<br />

Irrenanstalten. Nach wie dürftig blieb die psychiatrische Versorgung in einigen Landkantonen <strong>und</strong> insbe-<br />

sondere in der katholischen Zentralschweiz. Da dort psychiatrische Institutionen kaum vorhanden waren,<br />

sahen sich diese Kantone gezwungen, ihre Geisteskranken als Pensionäre in ausserkantonalen Anstalten<br />

verpflegen zu lassen. 662 Parallel zum Ausbau der psychiatrischen Infrastruktur nahm auch der Anteil der in<br />

den Irrenanstalten untergebrachten geistesgestörten Menschen zu. So sank der Anteil der in Familien ver-<br />

pflegten Geisteskranken im Kanton Bern zwischen 1871 <strong>und</strong> 1902 von 77% auf 51%. 663 Die Irrenanstal-<br />

ten dienten somit nur teilweise dazu, Engpässe im alten Versorgungssystem zu beseitigen, sondern vor<br />

allem dazu, Platz für geistesgestörte Menschen zu schaffen, die zuvor nicht von medizinischen Institutio-<br />

nen erfasst worden waren. 664 Seit 1857 diente die Waldau ebenfalls der Begutachtung <strong>und</strong> Unterbringung<br />

geistesgestörter StraftäterInnen. 665 Dieser Zulauf führte dazu, dass die neuen Anstalten bald chronisch<br />

überfüllt waren. Auch die Versorgungsmöglichkeiten der zunächst für 230 Patienten bemessenen Waldau<br />

kamen rasch an ihre Grenzen. 1862 musste das ehemalige «Tollhaus» wieder mit 50 Patienten bezogen<br />

werden. 666 Ab Mitte der 1860er Jahren überstieg die Zahl der in der Waldau untergebrachten Patienten die<br />

Zahl von 300. 667 In den 1870er Jahren wurden Geisteskranke aus Platzmangel wieder in Armenanstalten,<br />

ausserkantonalen Irrenanstalten <strong>und</strong> Gefängnissen untergebracht. Zudem erweiterten verschiedene private<br />

Irrenanstalten ihre Kapazitäten. 668 Gleichzeitig forderten die Ärzte der Waldau den Bau einer zweiten<br />

kantonalen Anstalt. 669 1874 machten dreissig Gemeinden aus dem Berner Jura den Regierungsrat in einer<br />

Petition auf die prekäre kommunale Versorgung von «gefährlichen Geisteskranken» aufmerksam <strong>und</strong><br />

656 Krapf/Malinverni/Sabbioni, 1978, 46f.<br />

657 «Statistik der Irren des Kantons Bern», 1839, 58-88; Wilhelm, 1991.<br />

658 Wyrsch, 1955, 22-40.<br />

659 SLB VBE 4862, Organisationsreglement 1855, Artikel 2, 11, 37f.<br />

660 Dies im Gegensatz zur Situation in Zürich, wo die Leitung des Burghölzli erst nach einem ersten Anstaltsskandal von 1879<br />

definitiv in den Händen der Ärzte lag; vgl. Klee, 1991, 43-46.<br />

661 Koller, 1914.<br />

662 Höck, 1994, 6-13.<br />

663 Fetscherin, 1872, 15; Ergebnisse der Zählung der Geisteskranken, 1903, 16.<br />

664 Vgl. für die komplexen Ursachen der Zunahme von Einweisungen in psychiatrische Anstalten, welche nicht allein auf das<br />

allgemeine Wachstum der Bevölkerung zurückgeführt werden kann: Heller/Gasser, 1999.<br />

665 Wyrsch, 1955, 102<br />

666 Wyrsch, 1955, 54.<br />

667 Ergebnisse der Zählung der Geisteskranken, 1903, 44-45.<br />

668 Krapf/Malinverni/Sabbioni, 1978, 102-112.<br />

669 Krapf/Malinverni/Sabbioni, 1978, 113-115.<br />

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