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Psychiatrie und Strafjustiz

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insofern verpflichtet, als diese massgeblich dazu beitrug, den historischen Blick auf psychiatrische Tätig-<br />

keitsbereiche auszuweiten, die sich ausserhalb der sprichwörtlichen Anstaltsmauern abgespielt haben.<br />

Umfassendere Untersuchungen über die Beurteilung der Zurechnungsfähigkeit <strong>und</strong> die «Gemeingefähr-<br />

lichkeit» von StraftäterInnen in der schweizerischen Justizpraxis liegen, wie bereits erwähnt, derzeit nicht<br />

vor. Zwei Untersuchungen von Christoph Schlatter <strong>und</strong> Monika Stuker zur Beurteilung homosexuellen<br />

Verhaltens durch <strong>Strafjustiz</strong> <strong>und</strong> <strong>Psychiatrie</strong> beschäftigen sich allerdings mit einem wichtigen Teilbereich<br />

der forensisch-psychiatrischen Praxis. 101 Abgesehen von diesen spezifischen Untersuchungen, existieren<br />

zur forensisch-psychiatrischen Praxis im Bereich des Strafrechts verschiedene kleinere Forschungsbeiträ-<br />

ge. Was die Formationsphase des forensisch-psychiatrischen Praxisfelds in der Schweiz anbelangt, hat<br />

Markus Günter bereits 1987 in seiner Lizentiatsarbeit auf die zunehmende Übernahme von Begutach-<br />

tungsfunktionen durch Ärzte in den 1820er Jahren am Beispiel Zürichs aufmerksam gemacht. Vincent<br />

Barras hat nachgewiesen, dass sich in Genf eine vergleichbare Medikalisierung kriminellen Verhaltens<br />

bereits in der zweiten Hälfte des 18. Jahrh<strong>und</strong>erts feststellen lässt. 102 Auch für den in dieser Untersuchung<br />

behandelten Zeitraum bestehen einige kleinere Untersuchungen zur forensisch-psychiatrischen Begutachtungspraxis.<br />

103 Der Schwerpunkt der bisherigen Forschung zum späten 19. <strong>und</strong> frühen 20. Jahrh<strong>und</strong>ert<br />

liegt jedoch eindeutig auf den kriminalpolitischen Stellungnahmen der Schweizer Psychiater. Eine Unter-<br />

suchung der forensisch-psychiatrischen Praxis im Kanton Bern zwischen 1890 <strong>und</strong> 1920 vermag also auch<br />

in dieser Hinsicht eine Forschungslücke schliessen. Was die kriminalpolitischen Positionsbezüge der<br />

Schweizer Psychiater anbelangt, haben Vincent Barras <strong>und</strong> Jacques Gasser in mehreren Beiträgen auf die<br />

engen personellen Netzwerke zwischen Strafrechtsreformern <strong>und</strong> Psychiatern sowie das Engagement des<br />

Vereins Schweizerischer Irrenärzte in der Strafrechtsdebatte der Jahrh<strong>und</strong>ertwende hingewiesen. Patrick<br />

Schwengeler hat sich zudem mit dem Projekt der Schweizer Irrenärzte für ein eidgenössisches Irrengesetz<br />

in den 1890er Jahren befasst. 104 Daniel Hell <strong>und</strong> Arnulf Möller haben dagegen die kriminalpolitischen<br />

Vorstellungen Eugen Bleulers einer nähren Analyse unterzogen <strong>und</strong> dabei auf die Tendenzen hingewiesen,<br />

die in dieser Untersuchung unter dem Begriff der Demedikalisierung zusammengefasst werden. Analoge<br />

Studien liegen seit längerem über das kriminalpolitische Engagements Forels vor. 105 Die vorliegende<br />

Untersuchung knüpft in Kapitel 4 an diese Forschungsergebnisse an <strong>und</strong> versucht zugleich, den Fokus auf<br />

die psychiatrische Kriminalpolitik in der ersten Hälfte des 20. Jahrh<strong>und</strong>erts auszuweiten.<br />

Strafrechtsgeschichte <strong>und</strong> historische Kriminalitätsforschung<br />

Ähnliche Forschungskonstellationen wie in der <strong>Psychiatrie</strong>geschichte lassen sich im Bereich der Straf-<br />

rechtsgeschichte feststellen. Auch hier dominierte lange eine affirmative Standesgeschichte, die ihre Auf-<br />

gabe primär im Nachzeichnen der Rechtsentwicklung <strong>und</strong> der juristischen Dogmatik sah. 106 In Abgren-<br />

zung zur traditionellen Strafrechtsgeschichte hat sich seit den 1970er Jahren eine historische Kriminalitäts-<br />

forschung entwickelt, die sich an Methoden <strong>und</strong> Konzepten der Sozial- <strong>und</strong> Gesellschaftsgeschichte ori-<br />

entiert. Allerdings lassen sich in jüngerer Zeit auch im Bereich der Strafrechtsgeschichte vermehrt Anzei-<br />

chen zu einer konsequenten Historisierung rechtlicher Normen <strong>und</strong> juristischer Begriffe ausmachen. 107 Zu<br />

dieser Strafrechtsgeschichte zu zählen sind auch verschiedene Forschungsarbeiten, die sich mit den kon-<br />

101 Schlatter, 2002; Stuker, 1999. Die Studie von Schlatter konnte bei der Fertigstellung des Manuskripts nicht mehr berücksichtigt<br />

werden..<br />

102 Günter, 1987; Barras, 1990.<br />

103 Germann, 2000; Möller, 1997; Barras, 1991.<br />

104 Barras/Gasser, 2000; Barras/Gasser, 1996; Schwengeler, 1999.<br />

105 Preiswerk, 1991; Bomio, 1990.<br />

106 Vgl. die klassische Überblicksdarstellung zur Geschichte des deutschen Strafrechts: Schmidt, 1995.<br />

107 Schwerhoff, 1999, 16; Willoweit, 1999.<br />

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