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Psychiatrie und Strafjustiz

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fung auf die ärztliche Alltagserfahrung diskutierte Krafft-Ebing ausführlich die Auswirkungen der Menst-<br />

ruation auf die strafrechtliche Verantwortlichkeit. Seiner Ansicht nach würden die meisten Frauen wäh-<br />

rend oder nach der Menstruation eine «gesteigerte nervöse <strong>und</strong> gemütliche Erregbarkeit» zeigen: «Abnor-<br />

me Reizbarkeit des Gemüts bis zu unbeherrschbaren <strong>und</strong> selbst pathologischen Affekten, krankhaften<br />

Verstimmungen, Angstanfälle, Zwangsvorstellungen, psychische Dys- <strong>und</strong> Anästhesie mit Impulsen zu<br />

feindlichen Reaktionen gegen die Aussenwelt, sind etwas ganz Gewöhnliches.» Trotz dieser angeblichen<br />

«Alltäglichkeit» wollte Krafft-Ebing in solchen Vorfällen eine pathologische Qualität erkennen, die sich bis<br />

zu einem «periodischen menstrualen Irresein» steigern könne. Dementsprechend postulierte Krafft-Ebing<br />

für jeden Richter <strong>und</strong> Arzt die Pflicht, die «Koinzidenz zwischen strafbarer Handlung <strong>und</strong> menstrualem<br />

Termin» abzuklären <strong>und</strong> eine sich daraus ergebende Beeinträchtigung der Zurechnungsfähigkeit bei der<br />

Strafzumessung in Rechnung zu stellen. Gleichwohl liess er keinen Zweifel offen, dass sich die Menstrua-<br />

tion negativ auf die strafrechtliche Verantwortlichkeit von Frauen auswirken müsse: «Die geistige Integri-<br />

tät des menstruierenden Weibes ist forensisch fraglich.» 1061 In die gleiche Richtung wie Krafft-Ebing ar-<br />

gumentierte der Wiener Psychiater Paul Julius Möbius (1853–1907) in seinem berüchtigten Pamphlet Über<br />

den physiologischen Schwachsinn des Weibes von 1900: «Auch das Gesetz sollte auf den physiologischen<br />

Schwachsinn des Weibes Rücksicht nehmen. Unsere Gesetze sind im grossen <strong>und</strong> ganzen nur für Männer<br />

gemacht; für die Minderjährigen ist gesorgt, das erwachsene Weib aber wird im Strafrecht dem erwachse-<br />

nen Mann gleich geachtet, <strong>und</strong> nicht einmal für einen mildernden Umstand gilt irgendwo das weibliche<br />

Geschlecht [...]. Zu den bisher angestellten Erwägungen kommt noch das hinzu, dass das Weib während<br />

eines beträchtlichen Teiles seines Lebens als abnorm anzusehen ist. Ich brauche vor Ärzten nicht über die<br />

Bedeutung der Menstruation <strong>und</strong> der Schwangerschaft für das geistige Leben zu reden, darauf hinzuwei-<br />

sen, dass beide Zustände, ohne eigentliche Krankheit, das geistige Gleichgewicht stören, die Freiheit des<br />

Willens im Sinne des Gesetzes beeinträchtigen.» 1062 Frauen, zumindest zur Zeit der Menstruation, waren<br />

demnach prinzipiell nicht für ihre (Straf-)Taten verantwortlich zu machen, da sie nicht über eine ausrei-<br />

chende «Willensfreiheit» verfügten. Für Möbius ergab sich aus dem «physiologischen Schwachsinn des<br />

Weibes» eine prinzipielle Infragestellung der Zurechnungsfähigkeit von Frauen <strong>und</strong> der strafrechtlichen<br />

Gleichbehandlung der Geschlechter.<br />

«Weibliche Schwäche» <strong>und</strong> «psychopathische Konstitution»<br />

In zwei der untersuchten Fallbeispiele erörterten die Berner Psychiater ausführlich den Einfluss der<br />

Menstruation auf die strafrechtliche Verantwortlichkeit von Frauen. In beiden Fällen gingen sie jedoch<br />

nicht soweit, wie es Möbius gefordert hatte. Vielmehr verzahnten sie den Topos der «weiblichen Schwä-<br />

che» mit dem neueren psychiatrischen Deutungsmuster einer «psychopathischen Konstitution» <strong>und</strong> relati-<br />

vierten dadurch gleichzeitig die Tradition der «weiblichen Sonderanthropologie». Sie reagierten damit auf<br />

den Paradigmawechsel innerhalb der <strong>Psychiatrie</strong>, wonach Krankheitsursachen wie «abnormen Veranlagungen»<br />

zunehmend Priorität über geschlechtsspezifische Deutungsmuster eingeräumt wurde. Eine solche<br />

Überlagerung traditioneller <strong>und</strong> neuerer Deutungsmuster zeigt beispielhaft der in Kapitel 7.43 diskutierte<br />

Fall von Lina H., die 1898 ihre Kinder <strong>und</strong> sich selbst umzubringen versuchte. Zwar nahm der Sachver-<br />

ständige in seinem Gutachten explizit Bezug auf den gerichtsmedizinischen Diskurs über den Zusammen-<br />

hang von Menstruation <strong>und</strong> Schuldfähigkeit. Dies allerdings erst, nachdem er Lina H. bereits eine «ver-<br />

minderte Widerstandskraft» aufgr<strong>und</strong> ihrer «krankhaften» <strong>und</strong> «psychopathischen Anlage» attestiert <strong>und</strong><br />

deshalb eine verminderte Zurechnungsfähigkeit angenommen hatte: «Ich glaube dies [eine Verminderung<br />

1061 Krafft-Ebing, 1892, 330-332; Fischer-Homberger, 1979, 78-80.<br />

1062 Möbius, 1990 (1900), 44f.<br />

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