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Psychiatrie und Strafjustiz

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verantwortlich. In den Augen der Psychiater wurde die «sexuelle Begierde» von Ulrich B. durch das stete<br />

Zusammensein mit Elise S. «genährt» <strong>und</strong> es brauchte «bei der ohnehin mangelhaft ausgebildeten Urteils-<br />

fähigkeit <strong>und</strong> dem Fehlen ethischer Hemmungen des Angeklagten» nur die «Wirkung des Alkohols» <strong>und</strong><br />

eine «gute Gelegenheit», damit «seine Leidenschaft alle Bedenken seines Meisters überwinden» konn-<br />

ten. 1036 Die Sachverständigen zählten die «sexuelle Begierde» hier zu den nicht weiter spezifizierten «mo-<br />

mentanen Impulsen» <strong>und</strong> «Leidenschaften», die der «schwachsinnige» Ulrich B. nicht zu beherrschen ver-<br />

mochte. Eine besondere Qualität massen sie dieser «Begierde» aber keineswegs zu. Getreu der Annahme<br />

eines starken männlichen Geschlechtstriebs, gaben sie dem Begehren von Ulrich B. sogar eine gewisse<br />

Berechtigung. So sahen sie darin, dass Ulrich B. nicht wie die unverheirateten Burschen seines Alters am<br />

Kiltgang teilgenommen hatte, weniger einen sittlichen Verdienst, als eine Folge seiner sozialen <strong>und</strong> sexuel-<br />

len Isolation im Dorf. Indem das Gutachten die Rechtfertigung von Ulrich B. aufnahm <strong>und</strong> ihn als Opfer<br />

einer Verführung präsentierte, tendierte es letztlich dazu, die Beziehung zwischen Täter <strong>und</strong> Opfer umzu-<br />

kehren. Dies kam jedenfalls deutlich in der abschliessenden Empfehlung der Sachverständigen zuhanden<br />

des Gerichts zum Ausdruck: «Ebenfalls würde es gut sein, ihm die Gelegenheit nicht allzu günstig zu ma-<br />

chen <strong>und</strong> ihn nicht fortwährend sexuell reizbaren Frauen oder Mädchen ohne Beaufsichtigung zu überlas-<br />

sen.» 1037<br />

Wenngleich die sexuellen Übergriffe von Ulrich B. letztlich zu einer psychiatrischen Begutachtung führ-<br />

ten, so verzichteten die Sachverständigen doch auf eine Diskursivierung des Sexuellen, wie es nach Fou-<br />

caults Erzählung eigentlich zu erwarten gewesen wäre. Dies lag zweifellos damit zusammen, dass für die<br />

Psychiater die heterosexuelle «Begierde» von Ulrich B. die Grenzen des «Normalen» nicht überschritt <strong>und</strong><br />

dass ihr damit eine gr<strong>und</strong>sätzliche Berechtigung nicht abzusprechen war. Dennoch verstiess Ulrich B. in<br />

den Augen der Psychiater gegen das Ideal der männlichen Triebkontrolle. Sexualpsychiater wie Krafft-<br />

Ebing waren sich einig, dass ein «ges<strong>und</strong>er» Mann <strong>und</strong> «Kulturmensch» seine «Triebe» zu beherrschen<br />

habe. Triebbeherrschung <strong>und</strong> Selbstkontrolle in sexueller Hinsicht galten zudem spätestens seit dem Zeit-<br />

alter der Aufklärung als Voraussetzung <strong>und</strong> Bestandteil der bürgerlichen Kultur. 1038 Nicht umsonst postu-<br />

lierte Krafft-Ebing: «Es ist ferner ein Gebot des Sitten- <strong>und</strong> Strafgesetzes, dass der Kulturmensch seinen<br />

Sexualtrieb nur innerhalb von Schranken, welche die Interessen der Kulturgemeinschaft, speziell Scham-<br />

haftigkeit <strong>und</strong> Sitten respektieren, betätige, <strong>und</strong> dass er unter allen Umständen jenen Trieb, sobald er in<br />

Konflikt mit altruistischen Forderungen der Gesellschaft gerät zu beherrschen vermöge.» 1039 Gleichzeitig<br />

erblickte er im unbeherrschten männlichen «Naturtrieb» eine permanente Gefahr für die öffentliche Sitt-<br />

lichkeit <strong>und</strong> Ordnung: «Da dem Mann durch die Natur die Rolle des aggressiven Teils im sexuellen Leben<br />

zufällt, läuft er Gefahr, die Grenzen, welche ihm Sitte <strong>und</strong> Gesetz gezogen haben, zu überschreiten.» 1040<br />

Dass Ulrich B. trotz der «Normalität» seiner «Begierde» die Grenzen von Sitte <strong>und</strong> Gesetz überschritten<br />

hatte, bezweifelten die Berner Psychiater keineswegs. In ihren Augen zählte allein die Tatsache, dass die<br />

eingeklagte Vergewaltigung eine Folge unzureichender «ethischer Hemmnisse» war, als deren Ursache sie<br />

den «Schwachsinn» von Ulrich B. ausmachten. Sie erachteten Ulrich B. deshalb als unzurechnungsfähig.<br />

Mit der Annahme einer mangelhaften Kontrolle des an sich «normalen» Geschlechtstriebs erübrigte sich<br />

in diesem Fall eine weitere Diskursivierung des Sexuallebens.<br />

1036 StAB BB 15.4, Band 1853, Dossier 610, Psychiatrisches Gutachten über Ulrich B., 20. Juni 1908.<br />

1037 StAB BB 15.4, Band 1853, Dossier 610, Psychiatrisches Gutachten über Ulrich B., 20. Juni 1908.<br />

1038 Vgl. Brändli, 1998; Mosse, 1997; Hull, 1988; Mosse, 1985.<br />

1039 Krafft-Ebing, 1907, 55.<br />

1040 Krafft-Ebing, 1907, 14.<br />

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