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Psychiatrie und Strafjustiz

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gut daher rühren, dass der Lehrer schlecht oder der Schüler faul war. In vielen Gegenden müssen auch die<br />

Kinder soviel auf dem Feld helfen, dass sie zu keinem regelmässigen Schulbesuch kommen. In vielen Fäl-<br />

len ist das Schulwissen mangels Übung im weiteren Leben später verloren gegangen.» 924 Psychologen <strong>und</strong><br />

Psychiater wie Alfred Binet (1857–1911), Hermann Ebbinghaus (1850–1909), Robert Sommer (1864–<br />

1937) oder Ziehen versuchten denn auch, eine von soziokulturellen Konditionierungen unabhängige Me-<br />

thode zur Prüfung der Intelligenz zu entwickeln. 925 Der deutsche Psychiater Ernst Schultze (1865–1938)<br />

erhoffte sich von den neuen Testmethoden ebenfalls Impulse für die forensische Begutachtungspraxis:<br />

«Solches Zahlenmaterial verfehlt seine Wirkung auf den Richter nicht <strong>und</strong> vermag ihn auch von der Strenge<br />

<strong>und</strong> der Exaktheit unserer Wissenschaft zu überzeugen». 926 Die aus den Versuchen der genannten Psy-<br />

chiater resultierenden Intelligenztests fanden nach 1910 auch in der Berner <strong>Psychiatrie</strong> zunehmend, wenn-<br />

gleich unsystematisch Verwendung. Um dem offensichtlichen Bias einer soziokulturellen Prägung ihrer<br />

Prüfungsverfahren zu entgehen, modifizierten die Berner Psychiater allerdings auch die traditionelle Ab-<br />

fragepraxis. So wurde der Bauernknechts Friedrich S. im Jahre 1918 nicht nur auf seine Schreib- <strong>und</strong> Re-<br />

chenkenntnisse getestet <strong>und</strong> zur nationalen Geographie <strong>und</strong> Geschichte («Habt ihr von Tell gehört?»)<br />

befragt, sondern auch zu Fragen aus dem ländlichen Alltag wie über den Saattermin für Kartoffeln oder<br />

die Unterschiede zwischen verschiedenen Hölzern. 927 Teilweise prüften die Psychiater bei Männern sogar<br />

die Fähigkeit zu landwirtschaftlichen Arbeiten wie Melken <strong>und</strong> bei Frauen die Geschicklichkeit bei der<br />

Besorgung des Haushalts. 928<br />

In mehreren der untersuchten Fälle verwendeten die Berner Psychiater standardisierte Intelligenztests, wie<br />

sie Ebbinghaus <strong>und</strong> Ziehen entwickelt hatten. Ebbinghaus hatte kurz vor der Jahrh<strong>und</strong>ertwende für die<br />

deutschen Schulbehörden einen «Lückentext» konzipiert, bei dem fehlende Silben <strong>und</strong> Worte sinnvoll<br />

ergänzt werden mussten. Mit diesem Test, der auch in der deutschen Armee Verwendung fand, sollte<br />

nicht nur die Gedächtnis-, sondern auch komplexere Verstandesleistungen erfasst werden. 929 Ziehen hatte<br />

dagegen ein mehrstufiges Testverfahren entworfen, bei dem verschiedene Komponenten der Intelligenz<br />

wie das «Retentionsvermögen», die «Vorstellungsdifferenzierung», die «Reproduktion» <strong>und</strong> die «Kombina-<br />

tion» von Gedankengängen geprüft werden sollten. Ziehen bemühte sich explizit, die einzelnen Fragen<br />

von soziokulturellen Prägungen frei zu halten. 930 Sein Testschema diente auch dem Testbogen, der in den<br />

Berner Irrenanstalten Verwendung fand, als Vorbild. Dieser bestand aus Fragen zur «Retention» wie<br />

«Wann sind Sie geboren?», «Welche Farbe hat die Fünfermarke?», «Wer war Luther?» oder «Wann sind Sie<br />

hierher gekommen?». Die «Merkfähigkeit» sollte durch das Nachsprechen von sechsstelligen Zahlen sowie<br />

die Lösung <strong>und</strong> Wiederholung einfacher Rechenaufgaben geprüft werden. Bei Aufgaben zur «Vorstel-<br />

lungsdifferenzierung» hatten die ExplorandInnen Begriffspaare wie «Hand <strong>und</strong> Fuss» oder «Irrtum <strong>und</strong><br />

Lüge» zu unterscheiden. Die «Reproduktion» wurde durch ein einfaches Assoziationsexperiment getestet.<br />

Die Exploranden hatten spontan zu antworten, was ihnen auf Begriffe wie «Wald», «Stadt» oder «Vater» in<br />

den Sinn kam. Um die «Kombination» zu prüfen, mussten die Exploranden beispielsweise die Wochenta-<br />

ge rückwärts aufsagen. Abger<strong>und</strong>et wurde der Testbogen durch einen Lückentext nach Ebbinghaus. 931<br />

924 Ziehen, 1911, 6.<br />

925 Zur deutschen Intelligenzforschung um 1900: Lengwiler, 2000, 205-217. Zu Binet <strong>und</strong> der Rezeption seiner Testmethoden in<br />

den USA: Gould, 1983, 157-258.<br />

926 Ernst Schultze, Weitere psychiatrische Beobachtungen an Militärgefangenen, Jena 1907, zitiert: Lengwiler, 2000, 213.<br />

927 PZM KG 5598, Psychiatrisches Gutachten über Friedrich S., 7. Mai 1918.<br />

928 PZM KG 4979, Psychiatrisches Gutachten über Ernst S., 13. Dezember 1918; StAB BB 15.4, Band 2071, Dossier 1730, Psychiatrisches<br />

Gutachten über Lina G., 7. Dezember 1917.<br />

929 Lengwiler, 2000, 207; Ziehen, 1911, 48-51.<br />

930 Vgl. Ziehen, 1911, 11f., 33f., 53.<br />

931 UPD KG 7965, Intelligenzprüfung nach Ziehen; Kombinationsmethode nach Ebbinghaus, o.D.<br />

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