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Psychiatrie und Strafjustiz

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dass auch bei einer medizinischen Definition die Entscheidung über die Zurechnungsfähigkeit beim Rich-<br />

ter bleibe. 549<br />

Die Analyse der verfügbaren Quellen zeigt zunächst, dass sich die in die Zurechnungsfähigkeitsdebatte<br />

involvierten Akteure keineswegs einig über die Bedeutung einer medizinischen Definition waren. Befürch-<br />

teten konservative Juristen wie Gretener oder Thormann durch die Vorschläge der Irrenärzte einen Kom-<br />

petenzverlust für die Justiz, so erhofften sich Psychiater <strong>und</strong> Strafrechtsreformer von einer medizinischen<br />

Definition primär eine Vereinfachung der Zusammenarbeit zwischen Sachverständigen <strong>und</strong> Richtern. Die<br />

Diskurse von Gegnern <strong>und</strong> Befürwortern bewegten sich somit auf zwei unterschiedlichen Argumentati-<br />

onsebenen. Um bei einer historischen Analyse dieser Debatte der Gefahr zu entgehen, sich im Dickicht<br />

der zeitgenössischen Argumentationsstränge zu verfangen, lohnt es sich, die Debatte nochmals im Hin-<br />

blick auf die Analysekategorie der strukturellen Koppelung zu rekapitulieren. Wie oben ausgeführt worden<br />

ist, unterliegt die strukturelle Koppelung, die der Rechtsbegriff der Zurechnungsfähigkeit zwischen den<br />

Bezugssystemen <strong>Strafjustiz</strong> <strong>und</strong> <strong>Psychiatrie</strong> herstellt, Bedingungen in Form von Regeln, die zum einen den<br />

Stellenwert forensisch-psychiatrischer Gutachten im Strafverfahren, das heisst die Kompetenzverteilung<br />

zwischen Sachverständigen <strong>und</strong> Justizorganen, zum andern die Form des intersystemischen Wissenstrans-<br />

fers normieren. In dieser Perspektive lässt sich die Forderung der Irrenärzte nach einer medizinischen<br />

Definition der Zurechnungsfähigkeit als Versuch auffassen, Einfluss auf die Bedingungen zu nehmen,<br />

unter denen Deutungsangebote in Form psychiatrischer Gutachten von der <strong>Psychiatrie</strong> an die <strong>Strafjustiz</strong><br />

vermittelt werden sollen. Indem sie ihre Gutachten auf eine medizinische Diagnoseerstellung beschränken<br />

wollten, erhofften sich die Psychiater, auf «ihrem Gebiet» (Wilhelm von Speyr) bleiben <strong>und</strong> so die unbe-<br />

queme Beantwortung der Frage nach der «Willensfreiheit» umgehen zu können. Im Sinn einer Arbeitser-<br />

leichterung sollte die Übersetzung medizinischer Bef<strong>und</strong>e in justiziable Begriffe den Justizorganen über-<br />

lassen werden.<br />

Dass dabei das Kalkül, dass Juristen kaum in der Lage sein würden, medizinische Bef<strong>und</strong>e als solche in<br />

Zweifel zu ziehen, eine gewisse Rolle gespielt haben dürfte, ist nicht von der Hand zu weisen. Allerdings<br />

räumten selbst die Gegner einer medizinischen Definition ein, dass auch bei einer psychologischen Defini-<br />

tion die Richter kaum im Stand sein würden, die Sachverständigenaussagen in jeden Fall kritisch zu über-<br />

prüfen. Auch sie setzten damit eine beträchtliche, sich aus der Praxis ergebende <strong>und</strong> nicht rechtlich fixierte<br />

Definitionsmacht der Experten voraus. 550 Auffallend ist jedoch, dass die Irrenärzte im Gegensatz in der<br />

Zurechnungsfähigkeitdebatte die Kompetenzverteilung zwischen Sachverständigen <strong>und</strong> Justizorganen<br />

kaum problematisierten. Auch seitens der Strafrechtsreformer war nie die Rede davon, psychiatrischen<br />

Gutachten eine für das Gericht verbindliche Wirkung zuzugestehen. Die Strafrechtsreformer waren aber<br />

bereit, den Psychiatern bezüglich der Form, in welche psychiatrische Sachverständige ihre Aussagen zu<br />

kleiden hatten, entgegenzukommen. Sie sahen in diesem Zugeständnis einen Beitrag für eine möglichst<br />

reibungslose Zusammenarbeit zwischen den beiden Disziplinen in der Justizpraxis. Was konservativen<br />

Juristen wie Gretener <strong>und</strong> Thormann demzufolge entging, war der Umstand, dass dieses Angebot zur<br />

Reduktion potenzieller interdisziplinärer Konflikte nicht darauf abzielte, eine Entscheidung im alten<br />

«Rangstreit zwischen Arzt <strong>und</strong> Richter» zugunsten der Mediziner herbeizuführen, sondern eine Etappe in<br />

einem Lernprozess darstellte, der in die Richtung einer intensivierten interdisziplinären Zusammenarbeit<br />

führte. Da die Definitionsfrage in erster Linie die Form der intersystemischen Wissensvermittlung betraf<br />

<strong>und</strong> die Realisierung einer medizinischen Definition keine unmittelbare Ausweitung des medizinischen<br />

549 Zürcher, 1898, 66f.; Expertenkommission, 1912 I, 125 (Voten Zürcher, Gautier).<br />

550 Expertenkommission, 1912 I, 114 (Votum Thormann); Bleuler, 1904a, 632.<br />

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