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Psychiatrie und Strafjustiz

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Demnach richtete sich die «Besserungsstrafe» an die Gruppe der meist jugendlichen «Besserungsbedürfti-<br />

gen», die durch Einweisung in eine «Besserungsanstalt» <strong>und</strong> durch «ernste <strong>und</strong> anhaltende Zucht» von der<br />

«Verbrecherlaufbahn» abgehalten werden könnten. 319 Lediglich abgeschreckt werden sollte die Gruppe der<br />

«Gelegenheitsverbrecher», bei denen die Gefahr einer Wiederholung der Delikte geringfügig sei. Die «Un-<br />

schädlichmachung» richtete sich schliesslich gegen die Gruppe der rückfälligen <strong>und</strong> unverbesserlichen<br />

«Gewohnheitsverbrecher». 320 In der Justizpraxis ergab sich dadurch die Notwendigkeit eines Strafwissens,<br />

das Entscheidungsgr<strong>und</strong>lagen über die zweckmässige Einstufung <strong>und</strong> Behandlung der einzelnen Delin-<br />

quentInnen bereitstellen sollte. Von Liszt sah denn auch in der mangelhaften Beschäftigung der Gerichte<br />

mit der Persönlichkeit der DelinquentInnen ein Hauptübel der bisherigen Justizpraxis: «[Der Richter]<br />

kennt den Verbrecher gar nicht, den er bestrafen soll; <strong>und</strong> auf den Menschen <strong>und</strong> nicht auf die [...] Tat<br />

kommt es an.» 321 In der Produktion eines Strafwissens, das die «Besserungsfähigkeit» von DelinquentIn-<br />

nen beurteilte, sah er eine wichtige Aufgabe der Kriminalanthropologie <strong>und</strong> der Kriminalpsychiatrie.<br />

Gleichzeitig plädierte er dafür, die definitive Entscheidung über die Dauer einer Strafe nicht mehr den<br />

Gerichten sondern speziellen «Aufsichtsräten» zu übertragen, die dem Strafvollzug angegliedert <strong>und</strong> mit<br />

verschiedenen Experten besetzt sein sollten. Allein im Strafvollzug sei es möglich, straffällig gewordene<br />

Individuen genügend zu beobachten, um valable Prognosen über ihr künftiges Verhalten anzustellen. Wie<br />

Ferris Reformkonzept implizierten damit auch von Liszts Reformen eine Verlagerung des forensisch-<br />

psychiatrischen Tätigkeitsbereichs von der Schuld- zur Vollzugsfrage. Mit der F<strong>und</strong>ierung seiner Krimi-<br />

nalpolitik auf ein humanwissenschaftliches Strafwissen sprach sich von Liszt für eine Verwissenschaftli-<br />

chung der Strafrechtspflege <strong>und</strong> für die Übertragung juristischer Definitions- <strong>und</strong> Entscheidungskompe-<br />

tenzen an medizinische <strong>und</strong> andere Experten aus. 322 Programmatisch fasste er diese interdisziplinäre Zu-<br />

sammenarbeit zwischen Juristen, Kriminalpolitikern, Strafvollzugsbeamten <strong>und</strong> Medizinern im Leitbild<br />

einer «gesamten Strafrechtswissenschaft» zusammen. 323<br />

Der Ersatz kurzfristiger Freiheitsstrafen sowie die Einführung unbefristeter Besserungs- <strong>und</strong> Verwah-<br />

rungsmassnahmen waren die wichtigsten Reformmassnahmen, mit denen von Liszt <strong>und</strong> seine Mitstreiter<br />

die konstatierte Ineffizienz der Strafrechtspflege bekämpfen wollten. Mit einer Ausdifferenzierung der<br />

Sanktionsformen hofften sie, den unterschiedlichen «Intensitätsgraden» der «antisozialen Gesinnung» von<br />

DelinquentInnen Rechnung tragen zu können. 324 Unbefristete <strong>und</strong> vom Verschulden unabhängige Sanktionen<br />

sollten allerdings auf psychisch gestörte DelinquentInnen, «unverbesserliche Gewohnheitsverbre-<br />

cher» sowie besserungsfähige Jugendliche beschränkt bleiben. In Bezug auf die grosse Mehrzahl der<br />

«normalen» Straffälligen hielten die Reformer hingegen an einem tatfixierten Strafrecht fest, nicht zuletzt<br />

um damit dem Vorwurf konservativer Juristen zuvor zu kommen, sie würden das Prinzip der individuellen<br />

Verantwortlichkeit unterminieren. 325 Mit dieser Zweitteilung in ein Straf- <strong>und</strong> Massnahmenrecht modifi-<br />

zierten die Reformer das Normalitätsdispositiv, das der bürgerlichen Strafrechtspflege seit der Wende zum<br />

19. Jahrh<strong>und</strong>ert zugr<strong>und</strong>e lag.<br />

In Bezug auf die Gruppe der geisteskranken oder psychisch «minderwertigen» DelinquentInnen plädierte<br />

von Liszt für eine weitgehende Medikalisierung des Strafrechts, wobei er sich massgeblich am Vorentwurf<br />

319 Zu von Liszts Engagement in der deutschen Jugendkriminalpolitik: Oberwittler, 2000, u.a. 92-102.<br />

320 Liszt, 1883, 36-43. Zu von Liszts Begriff des «Gewohnheitsverbrechers»: Andriopoulos, 1996, 75; Frommel, 1987, 83-97.<br />

321 Liszt, 1905, 333.<br />

322 Liszt, 1905, 334. Zur Verwissenschaftlichung des Sozialen: Raphael, 1996.<br />

323 Liszt, 1905, 293-296; Frommel, 1991, 471. Vgl. auch die von Adolf Dochow <strong>und</strong> von Liszt 1881 gegründete Zeitschrift für die<br />

gesamte Strafrechtswissenschaft.<br />

324 Liszt, 1905c.<br />

325 Liszt, 1905c, 408.<br />

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