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Psychiatrie und Strafjustiz

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sich ebenso an Juristen wie Mediziner richtete, ein grosses Gewicht eingeräumt wurde. Ebenfalls zur Sen-<br />

sibilisierung eines breiteren Publikums für forensisch-psychiatrische Problemstellungen trugen Referate<br />

der Psychiater auf öffentlichen Veranstaltungen wie den Jahresversammlungen der kantonalen Hilfsverei-<br />

ne für Geisteskranke bei. 479 Auch der Schweizerische Juristenverein traktandierte auf seiner Jahresversammlung<br />

von 1899 ein Referat zum Thema «Die geisteskranken Verbrecher im Strafverfahren <strong>und</strong> Strafvollzuge». 480<br />

Wie die erwähnten Briefwechsel zwischen Stooss, von Speyr <strong>und</strong> Glaser belegen, vermochten persönliche<br />

Kontakte zwischen Juristen <strong>und</strong> psychiatrischen Sachverständigen im Justizalltag ebenfalls massgeblich<br />

zur Netzwerkbildung beizutragen.<br />

Zu einer Institutionalisierung solcher informeller Netzwerke kam es in der Schweiz allerdings nur in Zü-<br />

rich, wo sich 1902 nach deutschen Vorbildern eine Psychiatrisch-juristische Vereinigung konstituierte, deren<br />

Vorsitz Eugen Bleuler übernahm. Von juristischer Seite war Emil Zürcher massgeblich an der Gründung<br />

beteiligt. 481 Zweck der Vereinigung, der Juristen, Psychiater <strong>und</strong> Gerichtsmediziner angehörten, war, «in<br />

gemeinsamer Besprechung die Kenntnis von der ges<strong>und</strong>en <strong>und</strong> kranken Seele im Strafrecht anzuwenden<br />

<strong>und</strong> sich über die Möglichkeiten des Zusammenarbeiten der Juristen <strong>und</strong> Mediziner im Strafprozess zu<br />

verständigen». Wo gegensätzliche Standpunkte zwischen beiden Berufsgruppen auftreten würden, sollte<br />

«durch gegenseitige Aufklärung» eine Verständigung erzielt werden. 482 Bereits auf der ersten Zusammen-<br />

kunft diskutierte die Vereinigung verschiedene Probleme, die sich aus der juristisch-psychiatrischen Zu-<br />

sammenarbeit im Justizalltag ergaben. Zur Sprache kamen dabei auch die Thesen Franks von 1902. Von<br />

juristischer Seite wurden dessen standespolitische Forderungen allerdings kurzerhand als «nicht haltbar»<br />

<strong>und</strong> als «Zukunftsmusik» bezeichnet. 483 In den folgenden Sitzungen beschäftigte sich die Vereinigung mit<br />

der Revision des Zürcher Strafprozessrechts, soweit es die forensisch-psychiatrische Begutachtungstätig-<br />

keit tangierte. Von Medizinern <strong>und</strong> Juristen gutgeheissen wurde dabei die bereits von Frank vertretene<br />

Forderung nach einer Spezialisierung der forensischen <strong>Psychiatrie</strong> durch die Konzentration der Begutach-<br />

tungstätigkeit auf die kantonalen Irrenanstalten. Ebenfalls behandelt wurde der Vorentwurf zu einem<br />

schweizerischen Strafgesetzbuch von 1903. 484 Auch wenn sich das deklarierte Ziel, durch «Aufklärung»<br />

interdisziplinäre Verständigung zu erzielen, nicht in jeden Fall erreichen liess <strong>und</strong> sich die Debatten oft auf<br />

einen gegenseitigen Meinungsaustausch beschränkten, stellt die von Bleuler <strong>und</strong> Zürcher ins Leben geru-<br />

fene Vereinigung dennoch ein wichtiges Indiz für die Lernprozesse dar, die sich ausgehend von der Straf-<br />

rechtsreform schliesslich in einer interdisziplinären Annäherung niederschlugen.<br />

Psychiatrische Kriminalpolitik zwischen Radikalismus <strong>und</strong> Pragmatik<br />

Das Herausbilden interdisziplinärer Netzwerke war eine wichtige Voraussetzung, dass die Schweizer Psy-<br />

chiater in den 1890er Jahren eine Kriminalpolitik zu formulieren vermochten, die sich bei den Strafrechts-<br />

reformern als anschlussfähig erwies. Dies ist umso mehr von Bedeutung, als die Schweizer Psychiater<br />

selbst nicht in der vom Justizdepartement ernannten Expertenkommission vertreten waren. Frühere Ver-<br />

suche der Psychiater, ihre Erfahrungen als Gerichtssachverständige in kriminalpolitische Lernprozesse<br />

einzubringen, waren Mangels Resonanz seitens der Juristenschaft kaum über Anfänge herausgekommen.<br />

Im Verein schweizerischer Irrenärzte waren strafrechtliche Fragen beispielsweise 1871 anlässlich der Diskussi-<br />

479 Vgl. Forel, 1884; Speyr, 1909. Zur Rolle des Berner Hilfsvereins für Geisteskranke bei der Bildung interdisziplinärer Netzwerke<br />

siehe Kp. 6.2.<br />

480 Lenz, 1899.<br />

481 Vgl. Gschwend, 1996, 505-512; Holenstein, 1996, 153. Zu den forensisch-psychiatrischen Vereinigungen in Deutschland:<br />

Wetzell, 2000, 82f.<br />

482 Zürcher, 1903, 179.<br />

483 Zürcher, 1903, 179-183.<br />

484 Zürcher, 1905.<br />

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