13.09.2013 Aufrufe

Psychiatrie und Strafjustiz

Psychiatrie und Strafjustiz

Psychiatrie und Strafjustiz

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.

YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.

tungsmuster, die «minderwertigen Anlagen» eine deutliche Priorität gegenüber erworbenen Erziehungsde-<br />

fiziten zugestanden, erlaubten den Sachverständigen, Abweichungen von der Norm auf ein «entartetes»<br />

biologisches Substrat zurückzuführen. Verstösse gegen soziale Erwartungen wie ein Mangel an «sittlichen<br />

Gefühlen», ein fehlender «Trieb zur regelmässigen Arbeit», einen «Zug zu schlechter Gesellschaft» oder<br />

einen «heftigen Geschlechtstrieb», wie es im Gutachten über Paul C. hiess, liessen sich als Ausdruck einer<br />

angeborenen <strong>und</strong> unveränderlichen «Minderwertigkeit» auffassen. Gleichzeitig spurten solche Deutungs-<br />

muster bereits die strafrechtliche Beurteilung <strong>und</strong> Behandlung solcher «abnormer Charaktere» vor, indem<br />

sie deren biologische Determinierung <strong>und</strong> prinzipielle Unbeeinflussbarkeit herausstellten.<br />

Die Symptome: «Moralische Schwächen» <strong>und</strong> «abnorme Gefühlsreaktionen»<br />

Richard Vogel attestierten die Sachverständigen eine «grosse moralische Schwäche <strong>und</strong> einen entschiede-<br />

nen Mangel an sittlichem Gefühl». Sie rückten ihn damit wie viele «Psychopathen» in die Nähe der um-<br />

strittenen Kategorie des «moralischen Schwachsinns». 978 Vogel hatte 1893 versucht, seinen Arbeitgeber,<br />

der ihn zuvor fristlos entlassen <strong>und</strong> ihm ein Arbeitszeugnis verweigert hatte, mit drei Revolverschüssen zu<br />

töten, hatte seinem Opfer aber lediglich schwere Verletzungen beigebracht. Auf Antrag seines Verteidigers<br />

wurde er in der Waldau begutachtet. Von seinen Arbeitgebern wurde er als «zurückgezogenen Menschen»<br />

sowie bei der Arbeit als «nachlässig <strong>und</strong> gleichgültig <strong>und</strong> vielfach ungenau» bezeichnet. Er habe ein «fre-<br />

ches Benehmen» an den Tag gelegt <strong>und</strong> einen «unsteten Blick» gehabt. Seine Mutter bescheinigte ihm<br />

dagegen einen «guten Charakter». Nur, wenn er von jemandem gereizt worden sei, habe er sich jeweils<br />

«furchtbar aufgeregt». 979<br />

Die Sachverständigen betrachteten Richard Vogel dagegen unter einem andern Blickwinkel. In ihren Au-<br />

gen waren die Aussagen Vogels über die begangene Tat in erster Linie Belege für eine «moralischen<br />

Schwäche»: «Vogel spricht ferner über alles klar aber kalt. Er äussert keine Reue über seine Tat. [...] Er<br />

denkt nicht daran, sich Vorwürfe zu machen. Er fühlt sich entschuldigt, weil er ‹sinnlos› war. Er kennt<br />

kein Mitleid mit seinem verletzten Meister, keine Rücksicht auf seine Mutter, keine Sorge für seine eigene<br />

Ehre <strong>und</strong> Wohl. Er spricht auch vollkommen gleichgültig über den Schnapstrunk, dem er sich ergeben,<br />

vom Umgang mit Mädchen usw. Er ist überhaupt stumpf. Er hat keine Freude an Geselligkeit <strong>und</strong> Tanz.<br />

Das Leben bietet ihm keinen Genuss, es ist ihm alles gleichgültig, er möchte ebenso lieb sterben [...].» 980<br />

«Kälte», mangelnde Reue <strong>und</strong> fehlendes Mitleid, Gleichgültigkeit der Umwelt, dem eigenen Leben <strong>und</strong><br />

sozialen Ansehen gegenüber, sowie «Stumpfheit» waren für die Sachverständigen Anzeichen, dass «Vogels<br />

sittlicher Charakter infolge seiner abnormen Anlage, zum Teil aber auch infolge seiner Lebensführung<br />

stumpf <strong>und</strong> entartet» sei. Es fehlten ihm deshalb «sittliche Gefühle, die ihn vor Schlechten bewahren<br />

könnten». 981 Das Gutachten stellte nicht nur eine kausale Beziehung zwischen der «abnormen» Anlage»<br />

<strong>und</strong> dem «Mangel an sittlichen Gefühlen» her, sondern brachte auch den Mordversuch direkt mit der «Ab-<br />

stumpfung» moralischer Empfindungen in Zusammenhang.<br />

Ein solcher «Mangel an sittlichen Gefühlen» bedeutete für die Psychiater, dass den betreffenden Delin-<br />

quentInnen die Einsicht in das Unrecht ihrer Tat abging <strong>und</strong> ihnen «Moralbegriffe» fehlten, die sie vom<br />

Begehen von Straftaten abzuhalten vermochten. Wie bei der Beurteilung der Strafeinsicht von «Schwach-<br />

sinnigen» operierten die Sachverständigen in diesem Fall mit dem Massstab verinnerlichter Wert- <strong>und</strong><br />

Gesetzesnormen. Sie gingen davon aus, dass DelinquentInnen wie Richard Vogel sehr wohl um die Straf-<br />

978 Zur umstrittenen Rezeption der «moral insanity» in der deutschen <strong>Psychiatrie</strong>: Kp. 3.2.<br />

979 Speyr/Brauchli, 1894, 275, 278f.<br />

980 Speyr/Brauchli, 1894, 283.<br />

981 Speyr/Brauchli, 1894, 286.<br />

228

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!