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Psychiatrie und Strafjustiz

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Rede. Unter einer solchen ist zu verstehen: Methodische Verteilung der Kranken, strenge Ordnung <strong>und</strong><br />

Regelmässigkeit nicht nur in Beziehung auf Essen <strong>und</strong> Trinken, Schlafen, Wachen, sondern hauptsächlich<br />

in Beziehung auf die Leitung <strong>und</strong> Zucht der Irren, Anhalten derselben zu einer geregelten Beschäftigung<br />

<strong>und</strong> Arbeit, zum Unterricht, wo die Individuen eines solchen fähig sind.» 680<br />

Erst in den neu entstandenen Irrenanstalten liessen sich eine solche «vernünftige Hausordnung» <strong>und</strong> die<br />

damit verb<strong>und</strong>enen Disziplinartechnologien einführen. Am Ende des Jahrh<strong>und</strong>erts legte Eugen Bleuler in<br />

seiner Antrittsvorlesung das Programm einer eigentlichen Anstaltstechnologie vor. Auch Bleuler bezeich-<br />

nete die Irrenanstalt als «therapeutisches Mittel ersten Ranges» mit der Zweck der «Abhaltung von Schäd-<br />

lichkeiten». In seinem Referat beschäftigte er sich ausführlich mit der Überwachung der Geisteskranken,<br />

der Bettbehandlung, dem Anhalten zur Arbeit, dem Anordnen von Bädern, der Isolierung in Einzelzellen,<br />

dem Verabreichen von Schlafmitteln, der Anwendung von physischem Zwang <strong>und</strong> der Kontrolle des<br />

Briefverkehrs. Bleuler war sich bewusst, dass die damalige <strong>Psychiatrie</strong> über keine «spezifischen Mittel» zur<br />

Heilung der Geisteskrankheiten verfügte. Vielmehr gelte es die «Heilung indirekt zu begünstigen» <strong>und</strong> so<br />

auf die Kranken einzuwirken, dass sie nicht nur lernen, «sich trotz ihrer Krankheit möglichst normal zu<br />

benehmen <strong>und</strong> ihr Brot zu verdienen, sondern auch bei einer gewissen Fertigkeit des Charakters weniger<br />

unter ihren Krankheitssymptomen zu leiden haben.» 681 Wie Bleulers Ausführungen deutlich machen, be-<br />

wegte sich eine solche psychiatrische Anstaltstechnologie im Spannungsfeld zwischen einem therapeuti-<br />

schem Anspruch <strong>und</strong> einer bewussten disziplinarischen Normalisierung der PatientInnen. Indem die neu-<br />

en Irrenanstalten Raum zu Beobachtung, Behandlung <strong>und</strong> Versorgung von sozial abweichenden Men-<br />

schen bereitstellten, vergrösserten sie gleichzeitig die Kontrollmöglichkeiten der Ärzte. Was die foren-<br />

sisch-psychiatrische Begutachtungstätigkeit anbelangt, schufen die Irrenanstalten erstmals einen homoge-<br />

nen <strong>und</strong> kontinuierlich überwachten Beobachtungsraum. Die spezifischen Einrichtungen der Irrenanstal-<br />

ten legten damit die institutionelle Basis für die Konstituierung eines klinisch- <strong>und</strong> forensisch-<br />

psychiatrischen Expertenwissens.<br />

Die personellen Netzwerke der Berner Psychiater<br />

Die Berner <strong>Psychiatrie</strong> wies im Untersuchungszeitraum eine erstaunliche personelle Kontinuität auf. Für<br />

die forensische Praxis bedeutete dies, dass die psychiatrische Gutachtertätigkeit weitgehend in den Hän-<br />

den einer kleinen <strong>und</strong> unter sich eng vernetzten Gruppe von Anstaltsdirektoren <strong>und</strong> Oberärzten der kan-<br />

tonalen Irrenanstalten lag. Frauen waren im Untersuchungszeitraum an den kantonalen Irrenanstalten<br />

lediglich als Assistenzärztinnen tätig, die keine Begutachtungsfunktionen ausübten. 682 Die dominante Figur<br />

der damaligen Berner <strong>Psychiatrie</strong> war der Direktor der Waldau, Wilhelm von Speyr. Der aus dem Basler<br />

Bürgertum stammende von Speyr war als ehemaliger Assistent Forels 1882 in die Waldau eingetreten <strong>und</strong><br />

übernahm 1890 als Nachfolger Schärers deren Leitung, die er bis 1930 ausüben sollte. Von Speyr wurde<br />

1891 ausserordentlicher <strong>und</strong> 1919 ordentlicher Professor für <strong>Psychiatrie</strong> an der Universität. 683 Mit seinem<br />

Amtsantritt fand ein eigentlicher Generationenwechsel in der Berner <strong>Psychiatrie</strong> statt. An die Stelle des im<br />

Milieu der Berner Radikalen verankerten Schärer trat nun der mit der «Zürcher Schule» um Forel <strong>und</strong><br />

Bleuler verb<strong>und</strong>ene von Speyr, der sich wie seine Zürcher Kollegen aktiv für die Standespolitik der<br />

680 Gutachten 1834, zitiert nach: Krapf/Malinverni/Sabbioni, 1978, 47.<br />

681 Bleuler, 1898, 16, 43.<br />

682 Die im Rahmen dieser Untersuchung analysierten psychiatrischen Gutachten wurden in der Regel von den Anstaltsdirektoren<br />

<strong>und</strong> den so genannten II. Ärzten (Oberärzte) erstellt <strong>und</strong> unterzeichnet. Bei deren Abwesenheiten konnte es aber vorkommen,<br />

dass auch III. <strong>und</strong> IV. Ärzte (Assistenzärzte) zu Sachverständigen ernannt wurden. Die folgende prosopographische Übersicht<br />

beschränkt sich – mit der Ausnahme Morgenthalers – auf die zwischen 1880 <strong>und</strong> 1920 an den Berner Irrenanstalten tätigen Anstaltsdirektoren<br />

<strong>und</strong> II. Ärzten. Vgl. Schläppi, 2001, 194, Fussnote 547.<br />

683 SANP, 47, 1941, 299-301<br />

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