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Psychiatrie und Strafjustiz

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von festen Grenzziehung zwischen beiden Bereichen ausgehen, <strong>und</strong> «flexibel-normalistischen Strategien»,<br />

die flexible Übergängen zwischen beiden Bereichen postulieren. 52 Nach Link bezieht die Moderne ihre<br />

spezifische Entwicklungsdynamik zu einem guten Teil aus dem sukzessiven Zurückdrängen protonorma-<br />

listischer durch flexibel normalistische Strategien. 53<br />

Solche Veränderungen auf der Ebene der Normalitätsdispositive stehen in engem Zusammenhang mit der<br />

von Foucault beschriebenen Tendenz zur Medikalisierung kriminellen Verhaltens. Im ersten Drittel des<br />

19. Jahrh<strong>und</strong>erts gingen sowohl die <strong>Psychiatrie</strong>, als auch die bürgerliche <strong>Strafjustiz</strong> von einer relativ stabi-<br />

len Grenze zwischen Krankheit <strong>und</strong> Ges<strong>und</strong>heit aus. Dies erlaubte gleichsam eine Engführung von medi-<br />

zinischem Krankheits- <strong>und</strong> juristischem Schuldbegriff. Eine Exkulpation wegen mangelnder Zurech-<br />

nungsfähigkeit <strong>und</strong> damit die Überführung in ein medizinisches Bezugssystem stand demnach nur bei<br />

einem kleinen Teil der DelinquentInnen überhaupt zur Diskussion. Die Ausdifferenzierung neuer psychi-<br />

atrischen Deutungsmuster führte im Laufe des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts indes dazu, dass sich die stabile Grenz-<br />

ziehung zwischen Krankheit <strong>und</strong> Ges<strong>und</strong>heit zunehmend auflöste. Resultat dieser Entwicklung war die<br />

Konzeptualisierung eines fliessenden «Übergangsbereichs» zwischen Krankheit <strong>und</strong> Ges<strong>und</strong>heit <strong>und</strong> die<br />

gleichzeitige Restrukturierung des forensisch-psychiatrischen Felds durch die Leitdifferenz «Normali-<br />

tät»/«Abnormität». In der Justizpraxis schlug sich die Ausdifferenzierung auf der Ebene der Normalitäts-<br />

dispositive im zunehmenden Diagnostizieren von «Grenzfällen» nieder, die nicht als geisteskrank, jedoch<br />

als «abnorm» bezeichnet wurden. Bezugspunkt bildete in diesem Fällen nicht mehr ein medizinischer<br />

Krankheitsbegriff, sondern eine imaginäre physiologische Durchschnittsnorm. Psychische «Abnormitäten»<br />

schlossen in den Augen vieler Juristen <strong>und</strong> Ärzten indes die strafrechtliche Verantwortlichkeit der betrof-<br />

fenen DelinquentInnen keineswegs von vornherein aus. Vielmehr galt es, Abweichungen von juristischen<br />

<strong>und</strong> physiologischen (Durchschnitts-)Normen von Fall zu Fall festzulegen. Wie im Laufe dieser Arbeit<br />

gezeigt werden soll, war diese Überlagerung juristischer <strong>und</strong> medizinischer Beurteilungskriterien, die beide<br />

in der Norm des autonomen (männlichen) Bürgersubjekts konvergierten, eine wesentliche Voraussetzung<br />

für die von Foucault beschriebene Konzipierung neuer juristisch-medizinischer Zugriffsmöglichkeiten auf<br />

StraftäterInnen.<br />

Sozialhistorische Medikalisierungsansätze gehen häufig von einem gr<strong>und</strong>sätzlichen Antagonismus zwi-<br />

schen Promotoren <strong>und</strong> Adressaten von Medikalisierungsbestrebungen aus. Claudia Huerkamp identifiziert<br />

Medikalisierungsprozesse beispielsweise mit der Verdrängung einer auf das Ges<strong>und</strong>heitsverhalten bezoge-<br />

nen Laienkultur durch eine medizinische Expertenkultur <strong>und</strong> deren Leitdifferenz Krank-<br />

heit/Ges<strong>und</strong>heit. 54 Francisca Loetz hat zu Recht kritisiert, dass solche Ansätze Medikalisierungstendenzen<br />

einseitig mit einer primär durch Staat <strong>und</strong> Ärzteschaft vorangetriebenen Sozialdisziplinierung gleichset-<br />

zen. 55 So konnten populäre <strong>und</strong> gelehrte Krankheitskonzepte durchaus miteinander korrespondieren. Sie<br />

schlägt stattdessen vor, von einer «medizinischen Vergesellschaftung» zu sprechen, die als «als Produkt<br />

wechselseitiger Einflussnahmen» verstanden wird, «in denen Staat, die (Gesamtheit) der Heilk<strong>und</strong>igen <strong>und</strong><br />

die (potenziellen) Kranken um die in ihren Augen beste medizinische Versorgung rangen». In methodi-<br />

scher Hinsicht postuliert Loetz, dem Prozesscharakter solcher Vergesellschaftungsvorgänge durch die<br />

Analyse von spezifischen Problem-, Interessen- <strong>und</strong> Akteurkonstellationen Rechnung zu tragen. 56 Was das<br />

Strafrecht anbelangt, hat Foucault bereits in den 1970er Jahren auf die zentrale Bedeutung solcher Prob-<br />

52 Link, 1999, 79-81.<br />

53 Link, 1999, 312.<br />

54 Huerkamp, 1985, 12.<br />

55 Zum Konzept der Sozialdisziplinierung: Behrens, 1999; Schuck, 1999; Schulze, 1987; Breuer, 1986; Peukert, 1986<br />

56 Loetz, 1994, 128, 147f.; Loetz, 1993, 43-56. Ebenfalls auf Konzept der Medikalisierung bezieht sich Labisch, 1992.<br />

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