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Psychiatrie und Strafjustiz

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eim Regierungsrat sachbezüglichen Antrag stellt». 1104 Das Berner Strafgesetzbuch knüpfte das Verhängen<br />

von «Sicherungsmassregeln» gegen geistesgestörte DelinquentInnen an zwei Bedingungen. Einerseits<br />

musste der Straftäter mangels Zurechnungsfähigkeit von «Strafe befreit» worden sein, andererseits musste<br />

die «öffentliche Sicherheit» seine Verwahrung in einer Anstalt erfordern. Eine nähere Umschreibung der<br />

«Gemeingefährlichkeit» enthielt das Gesetz allerdings nicht. In der Justizpraxis, wie sie im Folgenden un-<br />

tersucht wird, bildete aber praktisch immer ein psychiatrisches Gutachten die Gr<strong>und</strong>lage für die Anträge<br />

der Justizbehörden zuhanden des Regierungsrats. Ebenfalls auf Empfehlung der psychiatrischen Sachver-<br />

ständigen <strong>und</strong> der zuständigen Gerichte weitete der Regierungsrat 1908 die Anwendung von Artikel 47 auf<br />

vermindert zurechnungsfähige StraftäterInnen aus. Diese Ausweitung der Verwahrungspraxis wird in<br />

Kapitel 8.3 ausführlich analysiert. Indem das Berner Strafgesetzbuch Entscheide über sichernde Mass-<br />

nahmen dem Regierungsrat <strong>und</strong> nicht den zuständigen Justizbehörden übertrug, gab es der Bestimmung<br />

von Artikel 47 administrativrechtlichen Charakter. Wie bereits in Kapitel 4.32 ausgeführt worden ist, un-<br />

terschied sich das Berner Strafgesetzbuch in dieser Hinsicht von den späteren Vorentwürfen zu einem<br />

schweizerischen Strafgesetzbuch. Von diesen hob es sich ebenfalls dadurch ab, dass es Massnahmen nur<br />

zum Zweck der Verwahrung, nicht jedoch der Behandlung <strong>und</strong> Versorgung vorsah.<br />

Für die betroffenen StraftäterInnen hatte der administrativrechtliche Charakter der Berner Verwahrungs-<br />

bestimmung weit reichende Konsequenzen. Sofern sie von Gericht <strong>und</strong> Regierungsrat als «gemeingefähr-<br />

lich» bef<strong>und</strong>en wurden, konnten sie auf unbestimmte Zeit zur Verwahrung in eine Irrenanstalt eingewie-<br />

sen werden. Die Verneinung der strafrechtlichen Verantwortlichkeit bedeutete in solchen Fällen keine<br />

Entlassung aus der Untersuchungshaft, sondern begründete einen neuen institutionellen Zugriff. Noch<br />

einschneidender war die Wirkung in jenen Fällen, wo Strafverfahren mangels Zurechnungsfähigkeit be-<br />

reits im Stadium der Voruntersuchung eingestellt wurden. In solchen Fällen konnten die Untersuchungs-<br />

behörden direkt beim Regierungsrat die Anordnung sichernder Massnahmen verlangen. Die Verwahrung<br />

erfolgte dann, ohne dass ein Gerichtsurteil vorlag. In beiden Fällen verfügten die Betroffenen über keine<br />

Rechtsmittel, um den Entscheid der Regierung an eine höhere Instanz weiterzuziehen. 1105 Im Gegensatz<br />

zum regulären Strafvollzug hatten sie, respektive ihre Heimatgemeinden zudem die Kosten für den An-<br />

staltsaufenthalt zu tragen. 1106 Analog zur Einweisung erfolgte auch eine Entlassung aus dem Massnah-<br />

menvollzug durch einen Beschluss der Regierung, wobei sowohl die betroffenen StraftäterInnen, als auch<br />

ihre Heimatgemeinden Entlassungsanträge stellen konnten.<br />

Die Kontinuität sichernder Massnahmen im 19. Jahrh<strong>und</strong>ert<br />

Die Verwahrungsbestimmung des Berner Strafgesetzbuchs verweist auf die Kontinuität administrativ-<br />

rechtlicher Massnahmen im 19. Jahrh<strong>und</strong>ert. Analoge Bestimmungen waren bereits in den Vorentwürfen<br />

zu einem Berner Strafgesetzbuch von 1843 <strong>und</strong> 1852 enthalten gewesen <strong>und</strong> auch andere Schweizer Kan-<br />

tone nahmen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts analoge Bestimmungen in ihre Strafgesetze<br />

1104 StGB BE 1866, Artikel 47 (siehe Anhang 1). Artikel 45 des Berner Strafgesetzes betraf TäterInnen unter 16 Jahren, denen es<br />

an Unterscheidungskraft mangelte. Im Folgenden wird lediglich die Praxis sichernder Massnahmen gegenüber erwachsenen StraftäterInnen<br />

untersucht.<br />

1105 Das Gesetz betreffend die Verwaltungsrechtspflege vom 31. Oktober 1909 erlaubte einen Weiterzug eines Administrativentscheids<br />

an eine obere Behörde nur in jenen Fällen, wo dies durch die gesetzlichen Vorschriften ausdrücklich vorgesehen war. Dies<br />

war bei Artikel 47 StGB nicht der Fall (GDV, 1909, 229, Art. 33). Das B<strong>und</strong>esgericht stützte bereits in den 1880er Jahren die in<br />

vielen Kantonen verbreitete Praxis, freiheitsentziehende Massnahmen durch die Administrativbehörden zu verhängen mit der<br />

Begründung, es handle sich dabei «nicht um eine strafrechtliche Verurteilung, sondern mehr um eine vorm<strong>und</strong>schaftliche Massregel,<br />

deren Anordnung, beziehungsweise Bewilligung die Gesetzgebung der staatlichen Verwaltungsbehörde übertragen» könne.<br />

Vgl. BGE 11, 26-28.<br />

1106 Vgl. StAB A II, Band 1465, RRB 3669; A II, Band 1458, RRB 5969.<br />

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