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Psychiatrie und Strafjustiz

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Fazit: Sichernde Massnahmen als Ansätze zu einer Medikalisierung kriminellen Verhaltens<br />

Welche Bedeutung kam den in den verschiedenen Vorentwürfen verwirklichten sichernden Massnahmen<br />

gegenüber psychisch gestörten StraftäterInnen in Bezug auf eine Medikalisierung kriminellen Verhaltens<br />

zu? Zunächst ist festzuhalten, dass bereits die kantonalen Strafgesetzgebungen sichernde Massnahmen<br />

gegenüber unzurechnungsfähigen <strong>und</strong> «gemeingefährlichen» StraftäterInnen kannten. Die Strafrechtsre-<br />

form verlagerte diese Massnahmen <strong>und</strong> das Kriterium der «Gemeingefährlichkeit» jedoch generell vom<br />

Verwaltungs- ins Strafrecht. Nebeneffekt dieser Verlagerung war, dass Entscheide über sichernde Mass-<br />

nahmen stärker als zuvor an die Beurteilung der Zurechnungsfähigkeit durch medizinische Sachverständi-<br />

ge gekoppelt wurden. Eine stärkere Zusammenarbeit zwischen Juristen <strong>und</strong> Ärzten ergab sich ebenfalls<br />

bei andern sichernden Massnahmen wie Einweisungen in Trinkerheil- oder Verwahrungsanstalten. Einen<br />

neuen institutionellen Zugriff durch die <strong>Psychiatrie</strong> eröffnete die Strafrechtsreform dagegen auf vermin-<br />

dert Zurechnungsfähige, die bislang lediglich milder bestraft worden waren. Wie das in Kapitel 8 analysier-<br />

te Fallbeispiel des Kantons Bern zeigt, waren allerdings nach der Jahrh<strong>und</strong>ertwende einzelne Kantone<br />

bereits dazu übergegangen, vermindert zurechnungsfähige <strong>und</strong> «gemeingefährliche» DelinquentInnen<br />

zusätzlich zu einer regulären Strafe zu verwahren. Insgesamt betrachtet, kam das neue Massnahmenrecht<br />

somit vor allem in Bezug auf vermindert zurechnungsfähige StraftäterInnen einer ausgeweiteten Medikali-<br />

sierung kriminellen Verhaltens <strong>und</strong> damit einer Realisierung der psychiatrischen Kriminalpolitik gleich.<br />

Gemessen am ursprünglichen Radikalismus der psychiatrischen Forderung nach einer Umgestaltung des<br />

Strafrechts zu einem «Schutzrecht», mag diese in justiziable Form gebrachte Reform zwar bescheiden<br />

anmuten. Dennoch trug sie entscheidend dazu bei, dass sich das von den Strafrechtsreformern postulierte<br />

Sanktionsbemessungskriterium der «Gemeingefährlichkeit» auch bei ausgesprochenen «Grenzfällen» auf<br />

der Ebene des Strafrechts etablieren konnte. Für die forensisch-psychiatrische Praxis hiess dies, dass psy-<br />

chiatrische Sachverständige künftig vermehrt die Frage der «Gemeingefährlichkeit» von DelinquentInnen<br />

zu beantworten <strong>und</strong> Prognosen über deren weiteres Verhalten zu erstellen hatten. In institutioneller Hin-<br />

sicht bedeutete die Ausweitung ihres Zugriffs auf neue Gruppen von DelinquentInnen für die Schweizer<br />

<strong>Psychiatrie</strong> eine Herausforderung, der sie sich, wie in Kapitel 9 gezeigt wird, nur mit grossen Schwierig-<br />

keiten zu stellen vermochte.<br />

4.4 Fazit: <strong>Psychiatrie</strong> <strong>und</strong> Strafrechtsreform in der Schweiz<br />

Um den Stellenwert zu bestimmen, den die Schweizer Strafrechtsreformer einer Medikalisierung kriminel-<br />

len Verhaltens beimassen, gilt es sich nochmals zu vergegenwärtigen, dass die Strafrechtsreform in der<br />

Schweiz das Ergebnis eines doppelten Lernprozesses war, der wesentlich von den standespolitischen Inte-<br />

ressen der Schweizer Juristen selbst vorangetrieben wurde. Im Einklang mit der freisinnigen Parlaments-<br />

mehrheit versprach sich die Schweizer Juristenschaft von der Strafrechtseinheit eine Überwindung des viel<br />

beklagten föderalistischen «Rechtswirrwarrs» <strong>und</strong> eine Weiterentwicklung des B<strong>und</strong>esstaats in Richtung<br />

eines modernen Rechts- <strong>und</strong> Sozialstaats. Den am Strafrecht interessierten Juristen winkte zudem eine<br />

Konsolidierung der schweizerischen Strafrechtswissenschaft. Reformorientierte Strafrechtler wie Carl<br />

Stooss, Emil Zürcher oder Alfred Gautier sahen in einer Strafrechtskodifikation zugleich eine Chance,<br />

Postulate der internationalen Strafrechtsreformbewegung zu verwirklichen <strong>und</strong> eine teilweise Neuausrich-<br />

tung des Strafrechts im Hinblick auf eine effizientere Kriminalitätsbekämpfung durchzusetzen. In ihren<br />

Augen ging es sowohl bei der Rechtseinheit, als auch bei einer inhaltlichen Strafrechtsreform darum, Missstände<br />

zu beheben, für die sie das kantonale Schuldstrafrecht verantwortlich machten. Dazu gehörten<br />

namentlich eine auf den Rechtspartikularismus zurückgeführte allgemeine Rechtsunsicherheit sowie die<br />

registrierte Zunahme rückfälliger StraftäterInnen. In der zweiten Hälfte der 1880er Jahren formierte sich<br />

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