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Psychiatrie und Strafjustiz

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Die psychiatrischen Deutungsversuche kriminellen Verhaltens waren insofern auf die Wissensbedürfnisse der<br />

auftraggebenden Justizbehörden ausgerichtet, als sie meist auf die Klärung der strafrechtlichen Verantwortlich-<br />

keit fokussierten, die in klinischer Hinsicht von untergeordneter Relevanz war. Psychopathologische Er-<br />

klärungsmodelle wie eine «verminderte Widerstandskraft» oder eine «moralische Schwäche» stellten inner-<br />

halb des psychiatrischen Diskurses Elemente dar, die explizit auf die Willens- <strong>und</strong> Verstandessemantik des<br />

bürgerlichen Strafdiskurses bezogen waren. Als Bezugspunkt des psychiatrischen wie des juristischen<br />

Kriminalitätsdiskurses fungierte dabei die Norm des selbstverantwortlichen <strong>und</strong> zu einer «sittlichen Selbst-<br />

führung» fähigen (männlichen) Bürgersubjekts. Die Begutachtungspraxis im Kanton Bern erfuhr denn<br />

auch in verschiedener Hinsicht eine soziokulturelle Konditionierung, die zur Reproduktion <strong>und</strong> Stabilisierung<br />

der hegemonialen bürgerlichen Gesellschafts- <strong>und</strong> Geschlechterordnung beitrug. Bei r<strong>und</strong> drei Vierteil der<br />

ExplorandInnen handelte es sich um Angehörige der Unterschichten, wobei Frauen bei Begutachtungsfäl-<br />

len leicht überproportional vertreten waren. Das «Klassenprivileg» des Begutachtens, das im Untersu-<br />

chungszeitraum allein bürgerlichen Männern zustand, manifestierte sich ebenfalls in den Bewertungsmass-<br />

stäben, die die Psychiater bei der Grenzziehung zwischen «normalem» <strong>und</strong> «abnormem» kriminellem Ver-<br />

halten anlegten. Besonders deutlich zum Ausdruck kamen die unterschiedlichen sozialen Hintergründe<br />

von Sachverständigen <strong>und</strong> ExplorandInnen bei Begutachtungen von Angehörigen der ländlichen Unter-<br />

schicht. Über die unmittelbaren Wissensbedürfnisse der Justizbehörden hinaus befriedigten psychiatrische<br />

Deutungsangebote aber auch Sinngebungsbedürfnisse einer breiteren Öffentlichkeit. Indem sie kriminelles<br />

Verhalten auf Geisteskrankheiten, Intelligenzminderungen oder «abnorme Konstitutionen» zurückführten,<br />

stellten sie zwischen dem Handeln <strong>und</strong> der Individualität der straffälligen Individuen spezifische Verbin-<br />

dungen her, die die eingeklagten Straftaten in medizinisch-psychiatrische Sinnzusammenhänge stellten <strong>und</strong><br />

zugleich Optionen für die gesellschaftliche Bewältigung von Kriminalität eröffneten. Freilich zeigt sich,<br />

dass um die Jahrh<strong>und</strong>ertwende psychiatrische Deutungsmuster nach wie vor <strong>und</strong> vor allem in ausgesprochenen<br />

«Grenzfällen» mit traditionellen Auffassungen von Kriminalität kollidieren konnten, die in Norm-<br />

abweichungen primär das Resultat einer «bösen Absicht» oder einer individuellen Nachlässigkeit sahen.<br />

Da psychiatrische Gutachten einer freien Würdigung durch die Justizbehörden unterlagen, waren sie Ge-<br />

genstand von Aushandlungsprozessen, an denen sich nicht nur der Justizapparat, sondern auch die betroffenen<br />

DelinquentInnen beteiligten. Im Rahmen der Untersuchung ist verschiedentlich gezeigt worden, dass die<br />

angeschuldigten Männer <strong>und</strong> Frauen die beschränkten Handlungsspielräume, die ihnen eine psychiatrische<br />

Begutachtung im Rahmen eines Strafverfahrens bot, von Fall zu Fall unterschiedlich nutzten. Eine Aneig-<br />

nung psychiatrischer Deutungsmuster durch die betroffenen StraftäterInnen erwies sich indes meist als<br />

zweischneidig. Zwar liessen sich dadurch Strafminderungen erreichen, gleichzeitig war mit einer Begutach-<br />

tung aber auch eine Stigmatisierung verb<strong>und</strong>en, die zudem die Verhängung administrativrechtlicher Siche-<br />

rungsmassnahmen nach sich ziehen konnte. Ungeachtet der Verhandlungskonstellation jedes Einzelfalls,<br />

hat die Untersuchung gezeigt, dass die Berner Justizbehörden den Schlussfolgerungen der Sachverständi-<br />

gen in der Regel eine hohe Plausibilität beimassen. Am markantesten zum Ausdruck kam diese Anerken-<br />

nung der Expertenmeinung in den vergleichsweise häufigen Fällen, die aufgr<strong>und</strong> psychiatrischer Gutach-<br />

ten bereits in Stadium der Voruntersuchung eingestellt wurden. Im Gegenzug kamen ausgesprochene<br />

Konfliktfälle in der Berner Justizpraxis relativ selten vor. Gerade diese hohe Konvergenz muss als Indiz für<br />

die grosse Akzeptanz einer arbeitsteiligen Zusammenarbeit zwischen Justizbehörden <strong>und</strong> <strong>Psychiatrie</strong> im<br />

Kanton Bern gewertet werden.<br />

Die Bereitschaft der Justizbehörden, den Sachverständigengutachten in der überwiegenden Zahl von Fäl-<br />

len zu folgen, war nicht zuletzt die Folge davon, dass das Berner Strafgesetzbuch die Möglichkeit vorsah,<br />

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