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Psychiatrie und Strafjustiz

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1943/44 gef<strong>und</strong>ene Zusammenarbeitsmodus zwischen Strafvollzug <strong>und</strong> <strong>Psychiatrie</strong> vermochte die Be-<br />

dürfnisse der Strafvollzugsbehörden dennoch über Jahrzehnte hinaus zu befriedigen. Erst mit der Einrich-<br />

tung des Massnahmenzentrums St. Johannsen in den 1970er Jahren zeichnete sich eine erneute Verände-<br />

rung der Mitarbeit der <strong>Psychiatrie</strong> im Berner Straf- <strong>und</strong> Massnahmenvollzug ab. 1630<br />

11.5 Fazit: Forensische <strong>Psychiatrie</strong> in der unmittelbaren Nachkriegszeit<br />

Ausgangspunkt dieses Kapitels bildete das Votum Max Müllers auf der Versammlung der Schweizerischen<br />

Gesellschaft für <strong>Psychiatrie</strong> im Juni 1944. Müller brachte die damalige Befindlichkeit der Disziplin insofern auf<br />

den Punkt, als er zwar die Einführung des schweizerischen Strafgesetzbuchs als Fortschritt feierte,<br />

zugleich aber eindringlich auf den «akuten Notstand» hinwies, in den der Vollzug der Strafrechtsreform<br />

die <strong>Psychiatrie</strong> gebracht habe. Die ambivalenten Ausführungen Müllers <strong>und</strong> vieler seiner Fachkollegen<br />

zeigen, dass die Schweizer <strong>Psychiatrie</strong> für die Umsetzung der von der Disziplin seit den 1890er Jahren<br />

geforderten Strafrechtsreform denkbar schlecht vorbereitet war. Vor allem im Bereich des psychiatrischen<br />

Massnahmenvollzugs wurden institutionelle Defizite sichtbar, die ihrerseits eine Konsequenz aus der seit<br />

der Jahrh<strong>und</strong>ertwende unergiebig verlaufenen Diskussion um die Errichtung spezieller Verwahrungsan-<br />

stalten waren. Die Ausweitung der Begutachtungs- <strong>und</strong> Verwahrungspraxis in vielen Kantonen nach der<br />

Einführung des neuen Strafgesetzbuchs bedeutete für die Schweizer <strong>Psychiatrie</strong> eine beträchtliche perso-<br />

nelle <strong>und</strong> institutionelle Herausforderung, die innerhalb der Disziplin verschiedene Anpassungs- <strong>und</strong><br />

Lernprozesse auslöste. Waren sich die Schweizer Psychiater über die prekäre Situation einig, so gingen ihre<br />

Meinungen allerdings beträchtlich auseinander, wenn es um die Formulierung konkreter Lösungsstrategien<br />

ging. Umstritten blieb namentlich nach wie vor die Frage der Ausdifferenzierung spezieller forensisch-<br />

psychiatrischer Verwahrungs- <strong>und</strong> Begutachtungsinstitutionen, die es erlaubt hätten, die herkömmlichen<br />

Irrenanstalten im Bereich der Forensik zu entlasten.<br />

Eine Analyse der entsprechenden Diskussionen innerhalb der scientific community zeigt, dass sich in der Mit-<br />

te der 1940er Jahre schliesslich ein Strategienbündel durchsetzte, das auf eine teilweise Demedikalisierung<br />

des Massnahmenvollzugs abzielte. Von der Agenda verschw<strong>und</strong>en war dadurch die von einzelnen Psychi-<br />

atern vorgebrachte Forderung nach einer Ausdifferenzierung forensisch-psychiatrischer Institutionen. Die<br />

sich dabei durchsetzenden Demedikalisierungsstrategien brachen definitiv mit dem Medikalisierungsoptimismus,<br />

mit dem sich führende Schweizer Psychiater in den 1890er Jahren in die Strafrechtsdebatte einge-<br />

schaltet hatten. Wie in den vorhergehenden Kapiteln gezeigt worden ist, hatten sich solche Demedikalisie-<br />

rungstendenzen freilich bereits vor dem Ersten Weltkrieg abgezeichnet. Sie wurden zudem durch einen<br />

kriminalpolitischen Einstellungswandel in der Zwischenkriegszeit gefördert, der retributiven gegenüber<br />

regulativen Strafzwecken neuen Auftrieb gab, <strong>und</strong> dessen Ausstrahlung weit in die <strong>Psychiatrie</strong> hineinreich-<br />

te. Zur definitiven Verabschiedung der Schweizer <strong>Psychiatrie</strong> vom ursprünglichen disziplinären Projekt<br />

einer weitgehenden Medikalisierung kriminellen Verhaltens kam es dagegen erst unter dem Eindruck des<br />

«Praxisschocks» (Detlev Peukert), den der Vollzug des neuen Strafgesetzbuchs für die Disziplin bedeutete.<br />

Konsequenz dieser kriminalpolitischen Adjustierung war, dass Forderungen nach einer Konzentration des<br />

psychiatrischen Behandlungs- <strong>und</strong> Versorgungsangebots auf «heil- <strong>und</strong> besserungsfähige» DelinquentIn-<br />

nen <strong>und</strong> nach einer rigideren Exkulpationspraxis innerhalb der scientific community rasch mehrheitsfähig<br />

wurden. Das untersuchte Fallbeispiel des Kantons Bern verdeutlicht exemplarisch die Auswirkungen sol-<br />

cher Demedikalisierungstendenzen auf den Vollzug des neuen Massnahmenrechts. Das ausgesprochen<br />

flexible Berner Vollzugsmodell, das den Strafvollzugs- gegenüber den Justizbehörden grosse Ermessens-<br />

1630 StAB BB 4.1, Band 5179, Dossier 127/70, Protokoll der Besprechung auf der Ges<strong>und</strong>heitsdirektion, 4. September 1975; St.<br />

Johannsen, 1982.<br />

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