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Psychiatrie und Strafjustiz

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Forel wollte das Strafrecht durch ein «Schutzrecht» der Gesellschaft ersetzt wissen, das sich nicht auf eine<br />

Vergeltung begangenen Unrechts beschränken, sondern eine prospektive Kriminalitätsprophylaxe unter<br />

Einschluss eugenischer Massnahmen umfassen sollte. Es hiesse indes die Tragweite dieser radikalen kri-<br />

minalpolitischen Postulate überschätzen, berücksichtigte man nicht, dass der Strafrechtsreformprozess<br />

den Psychiatern bei der Verfolgung ihres disziplinären Projekts Rahmenbedingungen vorgab, die einen<br />

kriminalpolitischen Maximalismus, wie ihn Forel <strong>und</strong> Bleuler vertraten, von vornherein ins Reich der<br />

Utopie verwiesen.<br />

Um ihre Anliegen überhaupt in den Reformprozess einbringen zu können, waren die Schweizer Psychiater<br />

auf eine kommunikative Vernetzung mit den führenden Strafrechtsreformern angewiesen. Entsprechend<br />

bereitwillig gingen sie auf Angebote zur interdisziplinären Zusammenarbeit ein, so etwa im Rahmen der<br />

Schweizerischen Zeitschrift für Strafrecht. Gerade bei der publizistischen Zusammenarbeit zeigte sich, dass die<br />

traditionellen Gegensätze zwischen den beiden Disziplinen keineswegs unüberbrückbar waren. So aner-<br />

kannten auch traditionalistische Juristen wie Xaver Gretener die Nützlichkeit einer engen Kooperation<br />

von Justizbehörden <strong>und</strong> Psychiatern im Gerichtsalltag. Dieser interdisziplinäre Lern- <strong>und</strong> Annäherungsprozess<br />

führte dazu, dass das traditionelle Konfliktmuster des juristisch-psychiatrischen «Grenzdisputs»<br />

zusehends durch das Leitbild einer arbeitsteiligen Kriminalitätsbewältigung abgelöst wurde. Deutlich zum<br />

Ausdruck kommt die pragmatische Seite der psychiatrischen Kriminalpolitik in den rechtspolitischen In-<br />

terventionen der Disziplin. Die Beschränkung der Strafrechtseinheit auf das materielle Strafrecht setzte<br />

allfälligen Vorstössen seitens der Schweizer Irrenärzte, ihre Kompetenzen auf Kosten der Justiz zu erwei-<br />

tern, von vornherein enge Grenzen, verunmöglichte sie es doch die Kompetenzfrage auf B<strong>und</strong>esebene<br />

überhaupt zu thematisieren. In diesem Zusammenhang bezeichnend ist, dass die Aufnahme einer prozes-<br />

sualen Bestimmung über die Anordnung von Sachverständigengutachten ins materielle Strafrecht auf eine<br />

juristische Initiative zurückging. Die Schweizer Strafrechtsdebatte der Jahrh<strong>und</strong>ertwende markiert damit<br />

eine deutliche Verschiebung gegenüber den aus der ersten Hälfte des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts bekannten juris-<br />

tisch-psychiatrischen Kompetenzstreitigkeiten. Eine Analyse der Zurechnungsfähigkeitsdebatte zeigt zu-<br />

dem, dass sich die Psychiater von einer medizinischen Umschreibung der strafrechtlichen Verantwortlich-<br />

keit weniger eine Ausweitung ihrer Definitionskompetenzen, als eine Erleichterung ihrer Arbeitsbedin-<br />

gungen als Sachverständige erhofften. Damit verb<strong>und</strong>en war die Absicht, die Fortschreibung der aus medizinischer<br />

Sicht unhaltbaren Willenssemantik des bürgerlichen Strafdiskurses im künftigen Einheitsstraf-<br />

recht zu verhindern. Eine Abschaffung des Kriteriums der Zurechnungsfähigkeit, wie es Forel <strong>und</strong> Bleuler<br />

gefordert hatten, war dagegen nie Gegenstand der offiziellen psychiatrischen Rechtspolitik. Auch bei der<br />

Verankerung der verminderten Zurechnungsfähigkeit handelte es sich im Wesentlichen um eine Verein-<br />

heitlichung des kantonalen Rechts. Innovationen konnten die Psychiater dagegen im Bereich der sichern-<br />

den Massnahmen durchsetzen. Zwar handelte es bei den Bestimmungen um die Verwahrung <strong>und</strong> Versor-<br />

gung unzurechnungsfähiger DelinquentInnen primär um eine Integration kantonalen Verwaltungsrechts<br />

ins Strafrecht. Im Fall der vermindert zurechnungsfähigen DelinquentInnen bedeutete das neue Mass-<br />

nahmenrecht jedoch eine beträchtliche Ausweitung des psychiatrischen Zugriffs auf geistesgestörte Straf-<br />

täterInnen. Lediglich in diesem Bereich kann von einer unmittelbaren Ausweitung des psychiatrischen<br />

Zuständigkeitsbereichs die Rede sein.<br />

Gemessen an den programmatischen Forderungen eines Forels oder Bleulers erscheint die Bilanz der<br />

rechtspolitischen Interventionen der Schweizer Psychiater als bescheiden, gemessen an den 1893 in Chur<br />

vom Verein schweizerischer Irrenärzte gefassten Beschlüssen hingegen als ausgesprochen erfolgreich. Zu dis-<br />

kutieren bleibt damit die Frage nach der Bedeutung der Strafrechtsreform für die psychiatrische Disziplin<br />

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