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Psychiatrie und Strafjustiz

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chungen beschäftigt. Wie Jörg Hutter festgestellt hat, nahmen seit den 1870er Jahren psychiatrische Be-<br />

gutachtungen von «Päderasten» gegenüber rein körperlichen Untersuchungen deutlich zu. 1024 Diese Psy-<br />

chiatrisierung homosexuellen Verhaltens ging mit einer zunehmenden «Einpflanzung von Perversionen»<br />

(Michel Foucault) in die Individualität der betroffenen Männer (<strong>und</strong> Frauen) einher. Abweichendes Sexu-<br />

alverhalten wurde damit immer mehr von einem bloss verabscheuungswürdigen Verbrechen zu einem<br />

Gegenstand einer weitreichenden Diskursivierung abweichenden <strong>und</strong> «abnormen» Sexualverhaltens.<br />

Per Klab<strong>und</strong>t <strong>und</strong> Harry Oosterhuis haben darauf hingewiesen, dass Männer das Gros der Fallbeispiele in<br />

der Psychopathia sexualis darstellten. Krafft-Ebing assoziierte sexuelle «Perversionen» offensichtlich in erster<br />

Linie, wenn auch nicht ausschliesslich, mit dem Sexualverhalten von Männern. 1025 Lust am Zufügen von<br />

Schmerzen, also «Sadismus», stellte in seinen Augen beispielsweise eine krankhafte Übersteigerung des<br />

«natürlichen» männlichen Geschlechtscharakters dar. 1026 Einem dualistischen Geschlechtermodell verhaf-<br />

tet, bescheinigte Krafft-Ebing Männern von Natur aus einen heftigen Geschlechtstrieb, der sich bis zu<br />

«sadistischen» Aggressionen steigern könne: «Ohne Zweifel hat der Mann ein lebhafteres geschlechtliches<br />

Bedürfnis als das Weib. Folge leistend einem mächtigen Naturtrieb, begehrt er von einem gewissen Alter<br />

an ein Weib [...]. Dem mächtigen Drange der Natur folgend, ist er aggressiv <strong>und</strong> stürmisch in seiner Lie-<br />

beswerbung.» 1027 Sexuelle Gewalt wurde dadurch zu einer blossen Verlängerung des «natürlichen» männli-<br />

chen Geschlechtscharakters. 1028 Aber auch gleichgeschlechtliche Sexualkontakte trugen in der Psychopathia<br />

sexualis in erster Linie ein männliches Geschlecht. Wie Klab<strong>und</strong>t vermutet, dürfte dies nicht zuletzt darauf<br />

zurückzuführen sein, dass lesbische Frauen in der österreichischen Gerichtspraxis, auf die sich Krafft-<br />

Ebing bei seiner Materialsammlung in erster Linie stützte, praktisch keine Rolle spielten. 1029 Von der<br />

Norm abweichendes Sexualverhalten bei Frauen brachte Krafft-Ebing dagegen in erster Linie mit einer<br />

übersteigerten Sexualität in Verbindung. Dem verbreiteten Stereotyp von der fehlenden Triebhaftigkeit<br />

der Frau folgend, stellte für ihn aktives weibliches Begehren eine Bedrohung für die bürgerliche Ge-<br />

schlechterordnung dar: «Anders das Weib. Ist es geistig normal entwickelt <strong>und</strong> wohlerzogen, so ist sein<br />

sinnliches Verlangen ein geringes. Wäre dem nicht so, so müsste die ganze Welt ein Bordell <strong>und</strong> Ehe <strong>und</strong><br />

Familie <strong>und</strong>enkbar sein.» 1030 Wie andere Psychiater seiner Zeit rückte Krafft-Ebing die sexuell aktive Frau<br />

in die Nähe der Prostituierten. 1031 Die geschlechtsspezifische Zuordnung von sexueller Abweichung fasste<br />

die Psychopathia sexualis schliesslich in dem viel zitierten Satz zusammen: «Jedenfalls sind der Mann, welcher<br />

das Weib flieht, <strong>und</strong> das Weib, welches dem Geschlechtsgenuss nachgeht, abnorme Erscheinungen.» 1032<br />

Dieses Dispositiv, das Männern einerseits einen starken «natürlichen» Geschlechtstrieb» zugestand, ande-<br />

rerseits aber von der heterosexuellen Norm abweichendes Begehren <strong>und</strong> Verhalten als «pervers» titulierte,<br />

schlug sich, was die Beurteilung von Sexualdelinquenten betraf, ebenfalls in der forensisch-psychiatrische<br />

Praxis nieder. Tanja Hommen hat jüngst darauf aufmerksam gemacht, dass Sexualdelikte um die Jahrhun-<br />

dertwende keineswegs in jedem Fall psychiatrisch erfasst <strong>und</strong> interpretiert wurden. Vielmehr differenzierte<br />

die <strong>Psychiatrie</strong> zwischen unterschiedlichen Tätertypen, die vom «Gewaltmensch», der eine Vergewaltigung<br />

1024 Hutter, 1992, 80.<br />

1025 Oosterhuis, 2001, 204-208; Klab<strong>und</strong>t, 1994, 113-115.<br />

1026 Krafft-Ebing, 1907, 64-66.<br />

1027 Krafft-Ebing, 1907, 12f. Zur Diskussion über den männlichen Geschlechtstrieb um die Jahrh<strong>und</strong>ertwende: Puenzieux/Ruckstuhl,<br />

1994, 151-165.<br />

1028 Hommen, 1999, 77f. Zur Konstruktion einer ges<strong>und</strong>en männlichen Normalsexualität im hygienischen Diskurs: Sarasin, 2001,<br />

386-359.<br />

1029 Klab<strong>und</strong>t, 1994, 114, Fussnote 28.<br />

1030 Krafft-Ebing, 1907, 13.<br />

1031 Vgl. Ulrich, 1985, 65-69; Regener, 1999, 264-267 mit Verweisen auf die einschlägigen Schriften von Cesare Lombroso, Guglielmo<br />

Ferrero <strong>und</strong> Erich Wulffen.<br />

1032 Krafft-Ebing, 1907, 13.<br />

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