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Psychiatrie und Strafjustiz

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Die Gründe, die zur Adoption dieser Position führten, sind vielfältig. Zum einen fehlten in der Schweiz<br />

Erfahrungen mit speziellen forensisch-psychiatrischen Verwahrungsinstitutionen. Entsprechende Projekte<br />

<strong>und</strong> Vorstösse waren bekanntlich seit der Jahrh<strong>und</strong>ertwende alle versandet. Dagegen hatten sich Demedi-<br />

kalisierungsstrategien seit der Zwischenkriegszeit zu einem erprobten Äquivalent für eine institutionelle<br />

Ausdifferenzierung entwickelt, die eine wirksame Entlastung der psychiatrischen Institutionen erwarten<br />

liessen. Zum andern führte das Berner Vollzugsmodell, auf das sich viele Psychiater in den 1940er Jahre<br />

beriefen, eindringlich vor Augen, wie sich ohne grosse personellen <strong>und</strong> institutionellen Aufwendungen für<br />

die <strong>Psychiatrie</strong> befriedigende Lösungen finden liess. Das Berner Modell hatte den Vorteil, dass es den mit<br />

einer forcierten Medikalisierung des Straf- <strong>und</strong> Massnahmenvollzugs verb<strong>und</strong>enen (finanz-)politischen<br />

Handlungsbedarf weitgehend minimierte <strong>und</strong> so potenzielle Auseinandersetzungen um Ressourcen <strong>und</strong><br />

Standorte für spezielle Vollzugsanstalten im Keim erstickte. Dass den Psychiatern an einer politischen<br />

Profilierung ihrer Disziplin in den 1940er Jahren kaum gelegen war, zeigt die defensive Position der Dis-<br />

ziplin auf verschiedene in den letzten Kriegsjahren publik gewordenen «Anstaltsskandalen», welche das<br />

Renommee der <strong>Psychiatrie</strong> in der Öffentlichkeit beträchtlich in Mitleidenschaft zog. 1531 Schliesslich wurde<br />

die seitens der psychiatrischen Disziplin eingeschlagene Strategie des geringsten (politischen) Widerstands<br />

zu Beginn der 1950er Jahren von der b<strong>und</strong>esgerichtlichen Rechtssprechung weitgehend sanktioniert, so<br />

dass äusserer Druck für eine Kursänderung weitgehend wegfiel.<br />

Der Kampf um die ambulante Behandlung<br />

Was eine Medikalisierung des Massnahmenvollzugs anbelangte, waren sich die Schweizer Psychiater aller-<br />

dings in einem Punkt einig: Bei der Forderung nach der Ermöglichung ambulanter Behandlungen im<br />

Rahmen des Massnahmenrechts neuen Strafgesetzbuchs. Die Zahl der ambulant vorgenommenen psychotherapeutischen<br />

Behandlungen hatte in der Zwischenkriegszeit laufend zugenommen. Nebst frei praktizie-<br />

renden Psychiatern <strong>und</strong> Nervenärzten boten auch die psychiatrischen Universitätskliniken ambulante Psy-<br />

chotherapien an. Polikliniken wurden in Zürich 1913, in Basel 1923 <strong>und</strong> in Bern 1934 eröffnet. 1532 In der<br />

Zwischenkriegszeit setzte sich vor allem Charlot Strasser für eine ambulante psychotherapeutische Be-<br />

handlung von (Sexual-)DelinquentInnen ein. 1533<br />

Das Strafgesetzbuch sah eine ambulante Behandlung jedoch nicht vor. Einzig im Rahmen des bedingten<br />

Strafvollzugs war der Richter befugt, einem Verurteilten «Weisungen» zu erteilen, wozu ebenfalls das Be-<br />

folgen einer Psychotherapie gehören konnte. Allerdings blieb die Anwendung dieser Bestimmung auf<br />

Ersttäter beschränkt, deren Strafe ein Jahr Gefängnis nicht überschritt. Bereits im Frühjahr 1943 machte<br />

Hans W. Maier auf diese in seinen Augen bedauerliche Gesetzeslücke aufmerksam. 1534 Nach der Einfüh-<br />

rung des Strafgesetzbuchs gingen verschiedene kantonale Gerichte allerdings dazu über, unzurechnungs-<br />

fähige oder vermindert zurechnungsfähige Straftäter aufgr<strong>und</strong> Artikel 15 zu einer ambulanten Therapie zu<br />

verpflichten. 1535 Aus psychiatrischer Sicht war dieses Vorgehen nur zu begrüssen. Vor allem bei Sexualde-<br />

linquenten erhofften sich die Psychiater von ambulanten Therapiemassnahmen eine beträchtliche Verhin-<br />

derung von Rückfällen. 1536 Innerhalb der Disziplin herrschte allerdings Einigkeit, dass nur eine kleine Zahl<br />

von StraftäterInnen einer psychotherapeutischen Therapie überhaupt zugänglich sei. Für diese Minderheit<br />

hätte aber eine ambulante gegenüber einer stationären Behandlung entschiedene Vorteile: «Wenn man<br />

1531 Vgl. Hürlimann, 2000, 116-120; Müller, 1982, 309-314.<br />

1532 Bleuler, 1950, 394; Haenel, 1982, 132; Wyrsch 1955, 89.<br />

1533 Strasser, 1915; Strasser, 1927; Staehelin, 1928, 35; Forel, 1935, 202.<br />

1534 Maier, 1943, 157.<br />

1535 Humbert, 1943, 171 (Bern); Germann, 1953, 76 (Basel <strong>und</strong> Zürich);<br />

1536 Binder, 1952a, 187f.<br />

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